Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
anderen Städten in Ungarn. Miriam bittet jeden, der nach Miskolc geht, ihr zu helfen. «Bitte, suchen Sie Béla Rosenthal. Das ist mein Mann. Sagen Sie ihm, dass ich hier bin.» Viele Befreite sind wie Schatten ihrer selbst. Sie haben überlebt, aber in ihren Gedanken und Träumen sind sie immer noch im Lager. Bitterkeit schnürt Miriam die Kehle zu, immer wieder bricht sie in Tränen aus. Voller Freude war sie nach Komárno gekommen, konnte es nicht erwarten, vielleicht würde ja schon jemand auf sie warten, vielleicht, bestimmt sogar. Miriam trifft aber nur ihren Bruder Alex, der im Arbeitsdienst für die ungarische Armee die Verfolgung überstanden hat und sie im ersten Moment gar nicht erkennt. «Niemand sonst war zurückgekommen. Ich ging durch alle Zimmer unseres Hauses. Niemand. Jacob, der Jüngste, war bis zuletzt mit Alex zusammengeblieben. Er starb an Typhus. Meine Mutter und Lilly mit ihren zwei Kindern wurden vergast.» Das Haus war geplündert, nur der große Kachelofen war noch da. Miriam blickt auf die nackten Wände und fühlt sich schuldig. «Warum ich, warum kam ich zurück und nicht meine Mutter, die so fromm war?» Einige Tage später sieht Miriam auf der Straße eine Frau, die im Mantel ihrer Mutter vorbeigeht. Lange starrt sie der Unbekannten nach.
Alle Überlebenden haben diesen leeren Blick. Manche stürzen sich gierig auf das Leben, aber auch sie kommen über den Verlust ihrer Familienangehörigen nicht hinweg. Miriam denkt jeden Tag daran, wie es sein wird, mit Béla wieder vereint zu sein. Den schrecklichsten Gedanken versucht sie zu verdrängen. Ist Béla überhaupt noch am Leben? Sie fürchtet sich davor, zu Bett zu gehen. Jede Nacht fährt sie verschwitzt und schreiend aus ihren Albträumen hoch und liegt dann bis zum Morgengrauen wach, gequält von den Erinnerungen an Auschwitz und Kaufering. Komárno, ihre geliebte Heimatstadt, ist ihr fremd geworden. «Wir dachten, dass die Welt nach dem, was geschehen war, innehalten und jeder uns beweinen würde.» Aber nichts dergleichen geschieht. «Die Menschen waren schrecklich.» Der blond gelockte László wird in der Suppenküche bestaunt, aber das Kind erregt auch Wut und Verzweiflung. Eines Tages brüllt eine Frau Miriam an, wie das denn sein könne, dass sie mit einem Baby überlebt habe. «Meine Schwester war auch schwanger. Sie kam nicht zurück.» Miriam schämt sich so sehr, dass sie in den Boden versinken möchte. Viele Jahre werden noch vergehen, bis sie das Gefühl von Schuld überwunden hat oder zumindest aufhören kann, die Frage zu stellen, auf die es keine Antwort gibt. «Warum habe gerade ich überlebt?» Jetzt aber lässt dieser Gedanke sie nicht los. Niemand sieht Miriam, eine junge Frau von 22 Jahren, je lachen. «Unsere Körper und unsere Seelen waren zerbrochen.» Aber sie erfährt auch Mitgefühl. Drei Männer, Soldaten der Roten Armee, sind im Haus ihrer Eltern einquartiert worden. Sie bringen Essen, versuchen zu trösten, und einer, ein schlaksiger junger Kerl mit einem frechen Grinsen auf dem Gesicht, ist von László ganz begeistert. Er spielt mit ihm und trägt ihn in der Sonne herum. Alex wartet jeden Tag auf seine Frau und seine zwei Söhne. Aber sie werden nicht zurückkommen.
Miriam eilt mit László auf dem Arm zur Tür. Als sie öffnet, versagen ihr fast die Beine. Béla steht vor ihr. Wenn Miriam 65 Jahre danach davon erzählt, erstirbt ihre Stimme, ihre Schultern zittern, und Tränen laufen ohne Unterlass über ihr Gesicht, das sich wie im Schmerz verzerrt. Wahres Glück tut weh. Wie an diesem Tag im Juni 1945. Béla ist da. Miriam bringt kein Wort heraus, nur seinen Namen. Es klingt wie ein Schrei. Er kann nicht aufhören zu weinen. Dann blickt er auf László und sagt schluchzend: «Er sieht aus wie mein Vater.» Eine Ewigkeit, scheint es Miriam, ist es her, dass sie sich unter dem Hochzeitsbaldachin um Béla gedreht hat. Er ist schmutzig, müde und verschwitzt. Eine dünne Schnur hält die Sohlen seiner durchgelaufenen Schuhe fest. Den ganzen Weg von Miskolc nach Komárno, ungefähr 300 Kilometer, hat er zu Fuß zurückgelegt. Von einem Cousin, der Miriam nach der Befreiung in Dachau traf, hatte er von seiner Frau gehört. Ein Baby soll sie haben? «Du bist verrückt», hatte er zu seinem Cousin gesagt. Wie kann Miriam ein Kind haben. Ein entsetzlicher Gedanke durchfuhr ihn. Sie wird doch nicht von einem Deutschen vergewaltigt worden sein. Aber seine Frau lebt. Das ist das Wichtigste. «Er dachte
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