Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
nicht den bedeutsamen Unterschied: «Meine Mutter ist allein, ohne Mann, geblieben. Aber jüdische Familien sind ganz ausgelöscht worden.»
Dr. Ernö Vadász mit Maria Szabó. Für das Mädchen war der Arzt wie ein Großvater, sagt sie heute. Nagykálló, Ungarn 1953
Vielleicht hat Ernö Vadász manchmal, wenn eine schwierige Entbindung bevorstand, an die ungleich schlimmeren Umstände der sieben Geburten in Kaufering I zurückgedacht. Aber darüber weiß niemand etwas. Wahrscheinlicher ist, dass der Mediziner gar nicht an die Vergangenheit denken wollte, aber die Erinnerung ihn nicht losgelassen hat. Nach der Befreiung in Dachau blieb Vadász, der dem Tode nahe war, zunächst in der Obhut einer ungarischen Krankenschwester, Vilma Papp, die bei Kriegsende in Bayern lebte. Wie der Arzt zu Vilma Papp kam, ist ungeklärt. Aber die rätselhafte Frau wird in seinem Leben noch eine Rolle spielen. Zusammen gingen sie am 6. September 1945 nach Budapest. Wahrscheinlich erfuhr Vadász erst hier vom Tod seiner Familie. Er kehrte allein nach Nagykálló zurück. Eines Tages tauchte, wie Margit Harsányi, herausfand, Vilma in der Stadt auf. Die 43 Jahre alte Frau soll ihm gebeichtet haben, dass sie während des Krieges als Sekretärin für die SS gearbeitet hatte und nun in Budapest nicht mehr sicher war. Wenn das zutrifft, dann hat Ernö Vadász wie so oft in seinem Leben überraschend reagiert: Am 19. August 1946 heiratete er die römisch-katholische Frau, nicht aus Liebe, sondern aus Dankbarkeit für die Pflege, die er von ihr erhalten hatte, und weil er nie und keinem Hilfe versagte. Vadász stürzte sich in die Arbeit, lebte sonst aber ein stilles, zurückgezogenes Leben. Näher befreundet war er nur mit einem Ehepaar, das schon lange Zeit tot ist. Aber Margit Harsányi fand dessen Tochter Maria Szabó, die sich an die Umstände der zweiten Hochzeit des Arztes erinnert. Für sie war Ernö Vadász wie ein Großvater, den sie im realen Leben nicht hatte. Vielleicht erinnerte ihn das Mädchen, das er liebevoll Pindur (Kleines) nannte, an seine Tochter Perlchen. Auf seine Fahrten zu Kranken in den umliegenden Dörfern Nagykállós nahm er Pindur oft mit, und das Kind beobachtete, wie der Arzt Patienten, die keine Medikamente kaufen konnten, Geld zusteckte und Obst schenkte. Ihren Eltern allein vertraute Vadász einmal seine schrecklichen Erlebnisse in der KZ-Haft an. Vor ihnen sprach er auch mit tiefem Schmerz von seinen ermordeten Kindern. Im Heimatmuseum ist ein Foto, wahrscheinlich aus dem Jahr 1953, erhalten. Es zeigt Maria Szabó als kleines Mädchen mit einer großen Schleife im Haar. Sie steht im Hof ihres Elternhauses und hält Vadász an der Hand.
1957 erkrankte Ernö Vadász an Prostatakrebs. Er verabschiedete sich von Pindur und deren Eltern, bevor er in das Krankenhaus in Nyíregyháza ging. Kurze Zeit später, am 16. April, starb Ernö Vadász. Vilma erfüllte seinen Wunsch, wie seine erste Frau Borbala und seine Kinder verbrannt zu werden. Aber seine Asche wurde nicht, wie er es wollte, in alle Winde verstreut, sondern in einem Urnengrab in Debrecén beigesetzt. Vilma lebte bis in die 1980er-Jahre. Für die Jüngeren unter den Bewohnern Nagykállós ist diese Geschichte Vergangenheit, mit der sie nicht viel anfangen können. Das schmerzt Margit Harsányi, die ihren Schülern immer mehr als nur eine Lehrerin für Musik und ungarische Literatur war. In dem Klima des wieder erstarkten Antisemitismus hält sie unbeirrbar fest an der Erinnerung. Denn irgendwann, so hofft sie, muss Nagykálló doch erkennen, was für ein außergewöhnlicher Mensch Ernö Vadász war.
Schwierige Rückkehr, Juni 1945
R ezsö Steckler horcht auf. Das Klopfen wird lauter. Aufgeregt rennt er zur Haustür. Aber was für eine Enttäuschung. Es ist niemand, auf den er gewartet hätte. Draußen steht eine Unbekannte. «Wer bist du?», fragt er unwirsch. Jetzt erst merkt er, dass die junge Frau ein Baby im Arm hält. Ihr Kleid und das Tuch, in dem das Kind eingewickelt ist, sind schmutzig, sie wirkt sehr müde. «Ich bin es, Eva», sagt sie leise. Träumt er etwa? Aber ja, diese Stimme kennt er doch und das Gesicht auch, das ist doch die Freundin seines jüngeren Bruders. «Wo ist Géza, hast du etwas von ihm gehört?», fragt er sofort. Jetzt ist sie es, die enttäuscht ist. Traurig schüttelt sie den Kopf. Seine Frage bedeutet, dass Géza noch nicht da ist. Während der ganzen Heimreise freute sie sich auf ihn, auf seinen
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