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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Strittmatter
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funktionieren nach dem Überraschungs-Ei-Prinzip und sind etwas für Abenteurernaturen: Zimtblütenpaste? Bohnenmus? Auweia, diesmal Schweinefleisch und Entenei.
    Und während in den Wochen vor dem Fest die Läden und Kaufhäuser unter Pyramiden von Mondkuchenkartons verschwinden, so ist es eines der Mysterien des modernen China, dass man kaum jemanden findet, der sie gerne isst: »Scheußlich!« oder »Pappsüß!«, sind häufige Reaktionen unter chinesischen Bekannten, stets gefolgt von einem schicksalsergebenen Seufzer. Die Mondküchlein verkleben Magen und Appetit auf Tage hinaus. Dabei sind sie von einer Dichte, die jedem schwarzen Loch gut anstünde: Hätten sie eine Aussparung in ihrer Mitte, eigneten sie sich auch gut als Hantelgewicht.
    Als hätte es nicht genug Gründe gegeben, die Mondkuchen nicht zu mögen, erschütterte unlängst auch noch ein Skandal das Land: Die traditionsreiche Großbäckerei Guang Sheng Yuan in Nanjing, berühmt für ihre Küchlein seit mehr als achtzig Jahren, wurde dabei ertappt, wie sie es mit der Sparsamkeit übertrieb und die übrig gebliebene Füllung vom letzten Jahr in die neuen Küchlein stopfte. Die Mondkuchenverkäufe in ganz China brachen auf diese Enthüllung hin zusammen, eine Katastrophe für eine Industrie mit einem Jahresumsatz von zuvor immerhin 20 Milliarden Yuan (hernach waren es nach Auskunft der chinesischen Bäckervereinigung noch acht bis neun Milliarden Yuan). Mir kam es so vor, als habe das halbe Land nur auf einen Grund gewartet, die Mondküchlerei endlich über Bord zu werfen und sich dabei recht dankbar auf den Skandal zu berufen. »Mondkuchen sind ein Opfer von Chinas Modernisierung«, meinte einer unserer Freunde. »Viele Dinge, die wir als Kinder geliebt haben, finden wir heute schauerlich.«
    Ein besonderes Motiv der Abneigung hat der PekingerTV-Produzent Ying Da: ein Kindheitstrauma. »Ich hasse Mondkuchen, seit ich denken kann«, sagt Ying Da, sonst ein gemütlicher Charakter, der China die ersten Sitcoms geschenkt hat. Ying Das Abneigung rührt daher, dass die Küchlein zu alledem noch ein Symbol für Fremdenfeindlichkeit sind. Oder für die patriotische Ermannung des Volkes – je nachdem, auf welcher Seite man steht. Es gibt da eine Legende, die aufs 14. Jahrhundert zurückgeht, als China unter der nicht zimperlichen Herrschaft der Mongolen zu leiden hatte. Chinesische Rebellen sollen sich damals auf eine besondere Weise zum Aufstand verabredet haben: Sie buken einen Zettel in die Mondkuchen ein – die geheime Nachricht auf dem Zettel ist Kindern noch heute als Vers geläufig: »Am 15. des achten Monats tötet die Tataren!« Tataren, das meinte die Mongolen – und ging als chinesisches Schimpfwort später auf das Volk der Mandschuren über, ebenfalls reitende Nomaden aus dem Norden, die China die Qing-Dynastie (1644–1911) bescherten. Heute, nicht einmal ein Jahrhundert nach ihrem Sturz, sind die Mandschus fast völlig mit den Han-Chinesen verschmolzen, doch Sitcom-Produzent Ying Da war sich als Kind seiner Herkunft aus einer Mandschu- Familie stets bewusst. »Immer zum Mondfest hatten die anderen Kinder einen Spaß daran, ›Tötet die Tataren‹ zu rufen«, erzählt er. »Ich werde den Mondkuchen keine Träne nachweinen.«
    Mondkuchen sind heute dazu da, um verschenkt zu werden. Nicht nur an Freunde. Was sich da nicht noch alles findet in den edel verpackten Kartons: Mal ein Päckchen Tee, mal eine Goldmünze, auch Armbanduhren und Mobiltelefone purzelten schon heraus – ein diskreter Weg, einem Bekannten in der Verwaltung oder einem Vorgesetzten seine Wertschätzung zu erweisen. Ämter und Betriebe kaufen die Mondkuchenkartons zu Hunderten. Beim Schanghaier Produzenten Yuanchu sehen sie die Entwicklung jedenfalls gelassen. »Mondkuchen zu essen ist nicht länger ein Muss«, freute sichder Marketingmanager Qiao Keqin, »aber sie zu verschenken ist eines geworden.«
    Wichtiger als das Mondfest noch ist das Frühlingsfest. Der eine Tag im Jahr, an dem sich die ganze Familie zum Festmahl im eigenen Heim versammelt, ist Chinas Silvesterabend, der Abend vor Neujahr im chinesischen Mondkalender. Es ist also eigentlich das Neujahrsfest, aber als China nach dem Sturz des Kaiserreiches 1912 den gregorianischen Kalender übernahm, da benannte man es um in »Frühlingsfest«. Es ist das größte Fest der Chinesen. Man stelle sich vor, unser Weihnachten und Ostern fielen auf einen Tag, dann bekommt man eine Ahnung von dem familiären Aufruhr, der die

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