Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Vermehrungswut und dass diese in China, aber nicht nur dort, bekannt ist unter dem Namen »deutsche Kakerlake« (Blatella germanica).
Die jährlichen Feldzüge gegen das Getier werden in Chinas Städten von den »Patriotischen Komitees für Hygienekampagnen« generalstabsmäßig organisiert und mit flächendeckender Propaganda begleitet: Wandzeichnungen, Titelgeschichten in den Zeitungen, Aufmacher in den lokalen Fernsehnachrichten. Wir wissen, wann es so weit ist, wenn am Schwarzen Brett in unserem Hausflur wieder einer jener Aushänge der Hausverwaltung hängt, die ich gerne sammle und rahmen lasse. Derletzte lautete in etwa so: »Verehrte Hausbewohner! Wieder ist der eisige Winter vorüber. Wärme umflutet uns, und Sonnenschein ist uns gewogen. Der Frühling hält Einzug, es sprießen die Bäume, die Blumen blühen, und die Kakerlakenbrut hat einen Boom...« Für gewöhnlich endet ein solcher Aushang mit dem Appell, jede Familie möge so schnell als möglich zur Munitionsausgabe kommen und die ihr zugeteilte Ration an Kakerlaken- oder Rattengift abholen. Wer nicht auftaucht, wird telefonisch höflich an seine Jägerpflicht erinnert. Warum solche Hygienearbeit »patriotisch« heißt, ist nicht ganz klar, vielleicht verdächtigt man die Ratten ja ebenfalls der deutschen Nationalität. Dass sie sich nicht einzubilden brauchen, sie seien legitime Bewohner der Volksrepublik China, das jedenfalls hat schon Mao Zedong ihnen klarzumachen versucht.
Lange vor Mao hatte es in China einmal Daoisten gegeben, die glaubten, ein ideales Dasein führe der Mensch, der in der Natur aufgeht. Es gab Buddhisten, die wollten nicht, dass irgendeinem lebenden Wesen ein Haar gekrümmt wird. Und es gab die – in der Regel herrschenden – Konfuzianer, die nichts dabei fanden, die Natur zu benutzen und zu kontrollieren, denen aber dabei das rechte Maß über alles ging. Mao Zedong – Revolutionär, Utopist, Tyrann – brach mit allen. »Eine unerschöpfliche Freude«, sah der Dichter Mao darin, »mit Erde und Menschen zu ringen.« Beide wollte er formen nach seinem Willen, im Sinn hatte er das sozialistische Paradies – aber weder die Gesetze des Landes noch die der Physik. Mao spielte Gott. Mao führte Krieg. Gegen die menschliche Seele wie gegen die Natur.
»Wenn wir dem Berg befehlen, sein Haupt zu neigen, muss er das tun«, schrieb Mao Zedong 1958. Also befahl er die »Eroberung der Natur«. Mao blies zur Mutter aller Vernichtungsfeldzüge: Er rief sein Volk auf zur »Ausmerzung der vier Übel«. Für Mao waren das Fliegen, Mücken, Ratten und Spatzen. Und während es den Ratten damals schon böse erging, so konnten sie doch froh sein, dass ihnen der liebeGott keine Flügel geschenkt hatte, denn was die Chinesen in jenem Jahr mit ihren Spatzen machten, das sucht in der Geschichte seinesgleichen. Es ist ein im Wortsinne irres Beispiel dafür, was Mao meinte, wenn er sein Volk aufrief, es jenem »törichten Alten« nachzutun, der in der alten Sage eigenhändig einen ganzen Berg versetzt und damit der Natur zeigt, was eine Harke ist. Maos Spatzenjagd offenbarte zudem, wie groß die Kraft seiner Worte war, wie sehr sich China damals im Banne des Großen Vorsitzenden und in den Krallen seiner Organisation befand: Die Partei sprach »Tötet!«, und das ganze Volk ging vor die Tür, begab sich auf die Straßen und Felder, in den Händen all die Töpfe, Gongs und Trommeln, deren es habhaft werden konnte. Auf Kommando begannen alle ganz fürchterlich zu lärmen und zu krakeelen, tagelang – bis die verängstigten und erschöpften Spatzen, die sich in ganz China nirgends mehr zu landen trauten, tatsächlich tot vom Himmel fielen. Der Erfolg blieb nicht aus: Bald konnte sich das Land vor Insekten nicht mehr retten. Mao und die Seinen focht das nicht an. »Holt Getreide von den Berggipfeln«, jubelte die Propaganda, »holt Getreide aus den Seen.« Um die Natur brauchte man sich keine Sorgen zu machen: »Wenn die Menschen dem Vorsitzenden Mao gehorchen, wird die Erde ihnen gehorchen.« Die Erde dachte nicht daran, sie schickte zwischen 30 und 50 Millionen Menschen in den Hungertod. Als Mao 1976 starb, hinterließ er ein gebrochenes Volk und ein geschändetes Land: nackte Hänge, wo einst dichte Wälder standen, Wüste, wo einst Grasland war. Erodierte Böden, gebrochene Dämme, kollabierte Ökosysteme. Stolz hatte die Partei während der Kulturrevolution (1966–1976) Maos Gedanken als »geistige Atombombe« bejubelt. Pech für China, dass er
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