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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Strittmatter
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hetzten in der Kulturrevolution Kinder gegen Eltern, Ehemann gegen Ehefrau. Seither wundern sich Chinabesucher, warum Chinesen in der Öffentlichkeit fluchen, spucken und einander vor Fahrkartenschaltern die Ellbogen in die Rippen rammen. Weil aber aus den kommunistischen Revolutionären mittlerweile brave Reaktionäre geworden sind, haben auch sie gemerkt, dass da etwas schiefgelaufen ist. Jetzt mühen sie sich angestrengt, den alten Herrschern gleich ihrem Volk wieder Tugend einzuflößen. Die Kommunisten wollen dem Volk nun das Fluchen austreiben. Und das Vordrängeln. Und das Einkaufen im Schlafanzug. Deshalb gibt es im ganzen Land die »Komitees für patriotische Hygienekampagnen« und »Ämter für geistige Zivilisation«, deshalb gibt es in Peking die »Hauptstädtische Behörde für die Förderung der Moral«. Und deshalb findet man alle zwei Tage solche Schlagzeilen im Parteiblatt »Volkszeitung«: »Hebt die Qualität ( su zhi ) der Bürger an!«
    Die Seufzer kreisen stets um das Wort su zhi , welches eine Melange aus Charakter, Bildung, Takt und Tugendhaftigkeit meint: alles, was den Menschen zu einem vermeintlich feineren Bürger macht. Zwei Gruppen mahnen heute die Untertanen am dringendsten, sich zu besseren Chinesen zu wandeln: a) Parteifunktionäre, oft selbst von niederem Stand und ebenso niederer Standfestigkeit, und b) Intellektuelle, gewöhnlich von besserer Herkunft und gleichzeitig traditionell von besonderer Fingerfertigkeit in der Technik des pai ma pi , des unterwürfigen »Pferdearsch-Streichelns« – was uns dann wiederum zu a) führt, weil die dicken Ärsche auch in China den mächtigen Herren gehören. Aber selbst Chinas versprengte Demokraten geben die Schuld am schleppenden Fortschritt ihrer Mission nicht selten der mangelnden su zhi des ihnen stets entschlüpfenden Volkes. Die Klagen gelten oftChinas Landbevölkerung, die noch immer mehr als zwei Drittel aller Chinesen stellt.
    Von den Klageführern gern angeführtes Symptom fehlender Klasse ihres Volkes ist zum Beispiel der Zustand der öffentlichen Toiletten, ein Makel, den die Regierung zuletzt mit dem Ausrichten des vierten »Welttoilettengipfels« in Peking offensiv anzugehen suchte, auf dem der Vorsitzende der taiwanischen Toilettenvereinigung referierte zum Thema »Das humane Klo« und der Malaysier über »Verschiedene Toiletten für verschiedene Kulturen«. Beschämender noch: das hartnäckige Ausbleiben des ersten Nobelpreises für das Land, oder vielmehr des ersten Nobelpreises, der der Regierung in den Kram passt. (Den Nobelpreis für Literatur im Jahr 2000 an den im Pariser Exil lebenden Gao Xingjian ignoriert sie ebenso hartnäckig, wie sie den Friedensnobelpreis an den inhaftierten Essayisten und Bürgerrechtler Liu Xiaobo im Jahr 2010 als verabscheuungswürdige »Blasphemie« verdammt. Liu, so die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua, sei nichts als ein »verurteilter Krimineller« und der Preis ein »Instrument des Westens«, welcher wieder einmal nichts anderes beabsichtigte, als den Aufstieg Chinas zu sabotieren).
    Außerdem stört die beamteten Sittenwächter das ungenierte Spucken.
    Es kann einen überall ereilen. Des Morgens, im Liegewagen nach Suzhou etwa, kann es dem Chinareisenden passieren, dass er geweckt wird von einem Chor frisch ausgeschlafener kleiner Drachen, die sich über Waschbecken und Spucknäpfen mit Feuer und Kraft die Kehle freimachen. Dass Ihnen vergönnt ist, einer Könnerkehle beizuwohnen, erkennen Sie für gewöhnlich an dem schmeichelnden Gurren, mit dem eine solche sich sammelt: Es ist Vorspiel und Signal zugleich und sollte Ihnen Warnung sein, nun Deckung zu suchen. Nicht mehr lang, und das Gurren schwillt an zu drohendem Gurgeln und Röhren, einem startenden Flugzeug nicht unähnlich. Wird schließlich, im gemeinsamen Hauruckfleißiger Muskeln von Bauch bis Gaumen, in ein fauchendes Crescendo gepresst. Dann, urplötzlich stoppt das Fauchen, für einen Lidschlag nur – um endlich in erlösender Eruption die Flugbahn freizugeben. Im Normalfall haben Sie zu dem Zeitpunkt schon das Weite gesucht oder Ihren Kopf unter dem Tischtuch vergraben, sodass Sie das Aufklatschen nur mehr als fernes Echo vernehmen.
    Die Gewohnheit ist alt, »tief verwurzelt«, wie Chinas Zeitungen klagen. Schon der Abgesandte der britischen Krone, Lord MacCartney, notierte bei seinem Pekingbesuch 1793 beeindruckt, wie kaiserliche Mandarine »gnadenlos durch die Gemächer spucken«. Heute schämen sich die Mandarine

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