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Gebrauchsanweisung für die Welt

Gebrauchsanweisung für die Welt

Titel: Gebrauchsanweisung für die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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Land löst das Zugfahren so viele selige Gefühle aus: Der sandwich man kommt vorbei, der chai man , der coffee man , der chapati man , der lunch man , der dinner man , lauter gute Geister, die guttun. Man darf sogar das Fenster öffnen und den Fahrtwind spüren. Auch flirten geht. Ich bilde mir immer ein, dass das Tuckern – und hier tuckert es heftiger als irgendwo sonst – die scheuen schönen Inderinnen entspannt. Zu keinen revolutionären Gesten, sicher nicht. Aber zu einem Geplauder, zu einem Flirt mit Fragen und Antworten.
    Ach, ein Lächeln zwischen Mann und Frau, es scheint unbesiegbar, seinen Beitrag zum Weltfrieden kann keiner nachrechnen. Es passt überall. Aber in Zügen schwebt es länger, wie ein dezentes Parfum erinnert es für eine lange Weile an die leicht vergangenen Stunden.

Der magische Moment: Asien 2
    Wenn ich ein Land betrete, gehört es mir. Je schöner das Land, desto beharrlicher meine Besitzansprüche. Das ist ein Naturrecht, von dem ich zum ersten Mal bei Walt Whitman las: »The East and the West are mine/The North and the South are mine.« So will ich es machen wie er. Nicht Amerikaner sein und nicht Deutscher, nur Mitinhaber dieser Erde. Durchaus überzeugt, dass sie mir so unwiderruflich gehört wie den anderen, die sie mit mir teilen. Wie belanglos dann, ob es sich um Vietnam oder Botswana, Frankreich oder El Salvador handelt. Oder eben Kirgisien, wo die nächste Geschichte spielt. Wie ein Narr bin ich in dieses Land verliebt.
    Wladimir war mein Übersetzer und Pfadfinder. Er kannte die Pfade in die Hirne jener Menschengattung, die vor Jahren noch – mit dem besonderen Kennzeichen »Betonkopf« im Parteibuch – die kirgisische »SSR« zur drittärmsten Sowjetrepublik heruntergewirtschaftet hatte. Jetzt war das Land unabhängig, aber nach wie vor begraben unter der Erblast kommunistischer Ineffizienz. Wladimir hinterging das System. Damit wir vom Fleck kamen und drei Mal pro Tag etwas zu essen hatten. Der 37-Jährige war gerissen.
    Unrettbar verfallen bin ich ihm aber wegen seines Umgangs mit der deutschen Sprache. Er war perfekt. Fast. Und diesem Fast verdankte ich Luftsprünge des Entzückens, denn was nicht makellos war, erwies sich in den spektakulärsten Momenten als schlichtweg genial. Diese Momente verschafften Einblick in Wladimirs männliches Unterbewusstsein, sein so originelles Denken und Fühlen, sein leidgeprüftes Verständnis sozialistischer Befindlichkeiten.
    Und so fing es an: Als wir in der Hauptstadt Bischkek unser Hotel verließen, um eine Adresse aufzusuchen, bei der man unter Umständen ein Auto mieten konnte, meinte er, todernst und so nah der Wirklichkeit: »Komm, lass uns ein Taxi fangen.«
    Wir fingen eines, wir fanden den Verleiher, wir bekamen einen Wagen, einen Lada, und wir fuhren los. Ich übergehe alle anderen Wunder, mit denen Kirgisien uns überhäufte, und will nur das wunderlichste von allen erwähnen. Das aus zwei Teilen bestand, wobei der erste unerlässlich ist, um den zweiten zu begreifen.
    Wir fuhren Richtung Osten. Am späten Nachmittag erreichten wir das ehemalige Bonzen-Sanatorium Awrora , hier stiegen wir ab. Schon die Rezeption war monumental hässlich. Wie man sich angesichts so viel architektonischer Gnadenlosigkeit, so viel Bombastik, erholen konnte, blieb ein Rätsel. So lange, bis das Abendessen vorbei war und plötzlich eine Frau auftrat und zu singen begann. Und mit allem Schmalz in ihrer Stimme den schauerlich-falschen Marmor verschwinden ließ. Kirgisische Liebeslieder als Dessert. »Wenn ich an dich denke, hüpft mein Herz den Busen rauf und runter, so verrückt ist es nach dir«, kritzelte Wladimir auf einen Zettel. Eine Textzeile, die gerade wie ein Regenbogen durch die Eingangshalle schwebte, wie der Duft eines Körpers, nach dem man sich sehnte. Ein einziger Mensch stand da und hinter ihm, unsichtbar, spielte ein Sinfonieorchester mit tausend Geigen, mit tausend Harfen.
    So fulminant konnte Liebe klingen. Wie eine Sirene lehnte die runde Guldschan neben der Treppe und verdrehte uns die Sinne. Lied um Lied. Die meisten Gäste hatten die Augen geschlossen. Um das auszuhalten, diesen Drang der Gefühle. Niemand klatschte nach der Stunde. Wie benebelt saßen wir da, wie lahmgelegt von einer Überdosis Schönheit. Wir waren still und vollkommen versöhnt mit der Welt.
    Tage später erreichten Wladimir und ich Sheker, im Talas-Tal, im Westen des Landes. Eine Kuh schlief auf der Hauptstraße des Dorfes. Hundert Meter von ihr

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