Gebrauchsanweisung für die Welt
hatte sich vorgenommen, jeden Säugling töten zu lassen. Damit keiner ihn vom Thron jage. Als Henkerin engagierte er seine perfide Tante Holika, die er als Amme mit Giftbusen übers Land schickte. Wen immer sie stillte, sie stillte ihn zu Tode. Röchelnd verendeten die Kleinen. Krishna jedoch, das Himmelsbaby, identifizierte rechtzeitig die unheilvolle Brustwarze, biss sie ab und schlürfte dem Racheengel die schwarze Milch aus dem Leib. Ein vollendetes Märchen mit einem klassischen Ende: Die Bösen sind besiegt und das Gute, das Schöne und Helle lebt weiter.
Zu beweisen gibt es nichts. Keine einzige Spur führt zu klaren Antworten. Vielleicht Spurenelemente, der Rest ist Glaube, Imagination und tausendjährige Nacherzählung. Nichts kann mit indischer Phantasie Schritt halten. Alle Behauptungen sind unbeweisbar. Wie belanglos auch. Keines Inders Hingabe zu seinen Göttern hat mit Fakten zu tun. Sie stören eher, sie bremsen. Die Wirklichkeit ist unwirklich. Wahr und wirklich ist das Erfundene, die Magie, das Träumen.
Holi ist im Laufe der Jahrhunderte so vieles geworden: ein Frühlingsfest, eine Erntedankfeier, ein Jahresanfang, ein Sieg des Strahlenden über das Gemeine, ein Liebestrip, ein heiterer Rachefeldzug, eine ganz und gar sinnlos-euphorische Verrücktheit. Das alles muss gefeiert werden.
Ich will vom Höhepunkt dieser Tage berichten. Von Holi als Überflieger, als Adrenalinschock, der einen Flash nach dem anderen durch den Körper feuert. Die Adresse der Orgie: Baldeo, 25 Kilometer von Mathura entfernt. Hier wurde ein Verwandter Krishnas geboren. Diese erfundene Tatsache reicht aus, um drei Stunden pro Jahr den Verstand zu verlieren und teilzuhaben am Leben der Götter, an Krishna und Radha, jener Schönen, der er auf der Flucht vor dem grausigen König begegnete. Und die eine Liebe in ihm zündete wie keine zweite in der Weltgeschichte.
Absurd widersprüchlich fängt es an. Während Lautsprecherstimmen die Menge im brechend überfüllten Tempelhof zu »Ordnung und Respekt« auffordern, zwängen sich Hindupriester mit vollen Eimern durch die Reihen und spendieren jedem Besucher einen Becher Bhang , den Zaubertrank aus Cannabisblättern, Milch, Nüssen, Zucker und dem scharfen Kallmirtch-Gewürz. Kostenloses Marihuana von Staats wegen, allein dafür muss man dieses Land lieben. Wir alle trinken. Da ich wie immer empfänglich für Drogen bin, steigt mir – und allen anderen, unübersehbar – der Viertelliter zügig zu Kopf. Und da ich weiß, dass (inoffiziell) Opium beigemischt wurde, schaue ich auf den Sekundenzeiger meiner Uhr und warte gebannt auf den Rausch. Das Wissen, dass ein Rausch bevorsteht, ist fast so schön wie der Rausch selbst. Man fühlt das Zittern der Vorfreude.
Dann plötzlich ein Dutzend Posaunen und Trommeln, die das kindliche Götterpaar ankündigen. Ein zehnjähriger Krishna und eine achtjährige Radha treten als Inkarnation der zwei Weltberühmten auf und nehmen auf der überhöhten Bühne Platz, mittendrin. Das ist das Zeichen, dass wir, das Fußvolk, nun hopsen, tanzen und springen dürfen. Etwa zehn Minuten lang sieht alles noch zivilisiert aus. Solange braucht wohl die Droge, um den Kopf stillzulegen. Dann – wie auf Kommando – ist das Hirn weg und die Fetzen fliegen. Wörtlich. Frauen bespringen Männer, fingern nach dem Hals, dem Kragen, reißen ihn auf, reißen am Hemd. Im selben Augenblick überzieht von den vier umliegenden Dächern eine Kanonade aus Dreck, Schlamm, kaltem Teer, flüssiger Schuhcreme und Kuhdung die Szenerie. Gleichzeitig landet ein Wolkenbruch rot oder blau oder grün gefärbten Wassers auf unseren Köpfen.
Nach einer halben Stunde steht der Hof wadentief unter braungelber Brühe. Sichtweite zwei Meter, manchmal null, da ein Volltreffer lila Pulvers – abgefeuert aus raffiniert umgebauten Fahrradpumpen – die Augen verklebt. Und was nicht von oben kommt, kommt nun von unten. Kübelweise überschüttet jeder jeden mit einer Ladung Morast. Einmal, dreimal, ohne Zahl. Keiner beschwert sich, so ist es eisernes Holi-Gesetz. Ein Tempel als wild brandendes Irrenhaus. Glücksnärrische zucken wie geköpfte Gockel, kippen haltlos ins Wasser, hingestreckt vom Dope, vom Lachen, von dem Bewusstsein wohl, dass es ekstatischer auf Erden gerade nicht werden kann.
Peinigende Sensation aber bleiben die Frauen, jene oft kugelrund geschmeidigen Hausfrauen, die ungebrochen nach den kugelrunden Männern grapschen, irgendwann triumphierend ein
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