Gebrauchsanweisung für die Welt
später ging ich nach Paris. Indirekt war Féline dafür verantwortlich, mitverantwortlich. Denn mit ihr hatte ich nur englisch geredet. Und mich bei jedem Satz geärgert, weil ich kein Französisch sprach. Die Wut über meinen Provinzialismus tat mir gut, sie war der letzte Funke, um mich nach Frankreich zu treiben.
Das eben war die zweite Regel, an die mich die Wüste erinnert hatte: Wer reist, wer etwas wissen will von der Welt, der soll reden können: polyglott. Also zog ich um und schindete mich an der Alliance Française .
Als ich ein paar Sätze beherrschte, rief ich sie an. Und Féline kam, aus Roubaix. Ich war leicht irritiert, denn die in Afrika noch Ranke war inzwischen weniger rank geworden. (Um es verhalten auszudrücken.) Und, gar unverzeihlich: eine Spur behäbig. Wie sich herausstellte, segelte sie schon Richtung Ehehafen. Ein potenzieller Gatte befand sich bereits in der Warteschleife. Noch unverständlicher, da sie mir unterm strahlenden Firmament von ihrer Zukunft erzählt hatte. Die bewegt sein sollte, eher fern von ihrem Geburtsort, eher neugierig auf das Ferne und Fremde. Nein, schon mit 26 schien sie den Lockrufen einer faden Zufriedenheit zu erliegen. Mitten in einem trostlosen Vorort einer trostlosen Stadt. Als ich sie an der Bushaltestelle in El Golea getroffen hatte, trug sie zwei Leuchtraketen mit sich herum: ihre Jugend und ihre Schönheit. Mit seltsamer Nonchalance hatte sie die zwei inzwischen losgelassen. Sie sprudelte nicht mehr und sie hatte angefangen, ihren Körper zu verraten. »Youth is wasted on youth«, notierte George Bernard Shaw einmal, sprich: Wer jung ist, begreift nicht, dass er jung ist. Er trödelt, er verscherbelt sie. So eine war Féline geworden. Sie tauschte die Welt gegen ein trautes Heim. Ein miserables Geschäft.
Irgendwann, während wir in einem Café Nähe Bastille saßen, fiel mir die dritte Regel für die Gebrauchsanweisung ein. Die letzte, die ich aus der Wüste mitgebracht hatte: Trägheit, sprich, der Kampf gegen sie. Denn plötzlich schoben sich über das Bild von Féline das Gesicht und das Körperprofil von Lunis, dem Busfahrer mit den Diamantaugen. Mit dem ich mich damals mehrere Male unterhalten hatte. Ich bemerkte erst jetzt, dass er nicht gealtert war. Obwohl weit über fünfzig. Natürlich älter geworden, aber nicht auf senile Weise, nicht gezeichnet von den Verwüstungen eines schwunglosen Lebens. Nicht am Leib, nicht zu reden von seinen Augen. Seine klaren, federnden Bewegungen passten wunderbar zu der Weltgegend, in der er sich herumtrieb. Irgendein Geheimnis hatte er der Sahara entrissen. Eines, das ihm Lebensmut gab, das ihn schön und hell wie sie werden ließ. Jeder, der ihm zuschaute, konnte es sehen: Er leuchtete.
Der magische Moment: Indien
Natürlich gehört Indien zu Asien. Für alle, die nie es betreten haben. Aber für jeden, der schon einmal dort war, scheint unwiderlegbar, dass es zu keinem anderen Kontinent passt. Indien ist sein eigener Erdteil. Was den Reichtum an Wahnsinn und Geheimnissen, an Glitzer und Unerklärbarem betrifft, so sieht jedes andere Land daneben wie ein Armenhaus aus. Keines verkraftet mehr Widersprüche, keines zeigt radikaler so viel himmelhoch jauchzende Spiritualität, so viel Glamour, so viel (uns) unbegreifliche Sehnsüchte, so viel bodenloses Vertrauen in das Leben, so viel aberwitzigen Gedankenreichtum. Keiner kann ahnen, was Indien der Welt und dem Weltall schon an Unfassbarkeiten geschenkt hat. Als Schreiber will ich nie aufhören, davon zu künden. Immer wieder. Weil selbst tausend Menschenleben nicht reichten, um all die Wunder aufzuzählen.
So soll jetzt wieder Märchenstunde sein. Sie hat alles, was es braucht, um zwischen Realität und Traum zu schweben. Sie hilft, die Wirklichkeit zu erkennen, und sie hilft beim Träumen, um mit dieser Wirklichkeit fertigzuwerden. Wie jedes wahrhafte Märchen führt es in Zustände, die uns etwas von der Tiefe und der Unbegreiflichkeit des Daseins erkennen lassen. Verführt in eine Stimmung, die Weise für die weiseste halten: Freude, jene unbändige Lust zu leben.
Vorgeschichte: Begonnen hat Holi , unser Märchen, vor 3400 Jahren, nein, 5000, nein, 7000 Jahren, also irgendwann vor langer Zeit. Auf jeden Fall kam vor Urzeiten der Schönste aller Götter, Krishna, zur Welt. Das war – so singen die Märchenonkel – in Mathura, heute eine Stadt, etwa 150 Kilometer südlich von Neu-Delhi.
Sogleich dräute Unheil. Ein böser König, bös wie Herodes,
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