Gebrauchsanweisung für die Welt
Prozent unseres Lebens bestehen aus Routine? (Dieser euphemistische Ausdruck soll herhalten, um das grausige Wort »Langeweile« zu vermeiden.) Wie schnell würden wir Ja rufen, wenn das Leben ab sofort an Temperatur und Rasanz zulegen würde. Doch meist bleibt es beim Träumen. Weil wir wieder einmal begreifen, wie gefangen wir sind: von der Not, Geld zu verdienen, von der Sucht, noch mehr Geld zu verdienen, von unserem Kleinmut (kleiner Mut!), von unserer Kunst, das Leben auf die Zukunft zu verschieben, von unserer Begabung, der unverzeihlichsten, uns noch immer nicht des Werts unseres Lebens innezuwerden . Innen, drinnen, tief in uns.
Vielleicht ist das der Grund, warum Religionen erfunden wurden. Die wiederum ein »second life« erfunden haben. Nachdem wir, hier unten, unsere erste Chance verschlafen haben, dürfen wir anschließend, dort oben, weiterschlafen. Diesmal eine ganze Ewigkeit. »Das Leben«, schrieb der 1937 bei Wien geborene Elazar Benyoëtz, »will belebt, die Seele beseelt, der Geist begeistert werden.« Mich wundert, warum dieser poetische, so sinnfällige Satz so vielen nicht einleuchtet. Das scheint umso rätselhafter, als es doch viel mehr Kraft fordert, das Lauwarme zu ertragen, das »Normale«, den tagtäglichen Hochsicherheitstag (in Deutschland allerdings mit biologischer Vollwertkost). Wie deprimierend muss die Ahnung sein, dass keine weiteren Überraschungen mehr eintreffen. Deshalb klingt es – das Verwelken – so ungemein fordernd: weil eben nichts mehr antreibt, nichts mehr belebt, beseelt und begeistert. Das Leben auf Sparflamme. Statt befeuert zu werden. Von Vielfalt, von Herausforderungen, vom Wissen, wie endlich wir sind.
In Indien sah ich den Hindugott Shiva einmal als Nataraja dargestellt, als König des Tanzes. Es hieß, dass er – tanzend – die vier wichtigsten Aspekte allen menschlichen Daseins repräsentiere : Bewegung, Energie, Lust und Ordnung . Nein, der Begriff »Ordnung« stört mich keinesfalls. Solange die andere Hälfte des Lebens aus Unordnung, sprich Kreativität und Bereitschaft zum Risiko besteht, kann sie durchaus regulierend wirken. Ich mag auch Ordnung, sie befriedigt mein Verlangen nach Übersicht und Klarheit. Immer nur Chaos? Sicher so zermürbend wie ewiglich himmlische Ruh.
Zurück zum Thema, zurück zur Gefahr, Angst, Gewalt. Zur Klarstellung: Auch wenn einer als »Amateur« reist, weil Ferien sind und er sich eine Sehnsucht erfüllen will, besteht die Möglichkeit, den drei Phänomenen zu begegnen. »Hoffentlich«, merke ich noch roh an. Denn dann lernt einer etwas über den Zustand der Welt, über Frauen und Männer, die es die meiste Zeit nicht so bequem haben wie der Besucher. Weil sie wehrloser leben und somit zwangsweise mit den Fährnissen des Lebens in Berührung kommen.
Reist einer als Profi, in meinem Fall als Reporter, dann wird er der Willkür häufiger begegnen. Weil er ja nicht – um sich von der Journaille zu unterscheiden – über die (angebliche) Cellulite von Salma Hayek berichten will, sondern über einen konfliktreichen Globus. Und Konflikte bedeuten Stress. Wahrscheinlich wollen wir (Schreiber) es nicht anders, denn eine brave Welt hört sich so harmlos an wie die Beichtstunde einer Neunzigjährigen. Und darüber wäre kein Wort zu verlieren. Zudem: Arbeitslos müssten wir uns auch melden. Denn wir nähren uns ja von der Unruhe, der Unbill.
Ich will es gleich loswerden: Ich habe nicht ein Jota Tollkühnheit in mir, habe nicht die geringste Absicht, blindlings mein Leben zu riskieren. Keine einzige Zeile von mir ist es wert, für sie zu sterben. In Tibet band mir ein Mönch einen Baumwollfussel um mein linkes Handgelenk, damit ich, so erklärte er, »nicht den roten Faden des Lebens« verlöre. Elegante Geste: jemanden an das Unersetzlichste zu gemahnen. Aber in meinem Fall war der Aufruf eher überflüssig. Ich habe mir als Reporter – von Anfang an – genau überlegt, ob ich mich auf eine Gefahr einlasse oder nicht. Habe sie »taxiert«, sie vorausgedacht, sie zu Ende bedacht. Und meist den Plan aufgegeben, wenn er zu heiß wurde. Manche zogen sich schneller als ich zurück, manche waren mutiger und gingen weiter. Ein paar von ihnen sind heute tot.
Einer starb aus Versehen, in der Nähe von Johannesburg. Eine Kugel traf ihn, die nicht für ihn bestimmt war. Reines Pech. Ein anderer war im Auftrag eines deutschen Boulevardmagazins unterwegs, um über den Rückzug der Taliban in Afghanistan zu berichten. Und
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