Gebrauchsanweisung fuer Indien
seine Insignien. Seine Lappenohren sind gepierct, an ihnen hängt die Girlande, die sich um seinen Hals schlingt. Sein Gesichtsausdruck ist wohlwollend, entspannt. Seine Anbetung dauert nur einen Moment und ist denkbar einfach: Verneigung, Opfergabe, Glocke läuten, dreimal um das Idol schreiten, kurzes Gebet. Fertig. So konzentriert wie Aum.
Trotz des gelegentlichen Brimboriums an der Oberfläche zeichnen sich die indischen Religionen aber auch durch maximale Reduktion aus. Minimal Music war schon im alten Indien angesagt. So reichte es beim Gebet aus, die Noten Sa und Pa zu intonieren. Dieser spirituelle Dadaismus hängt mit der Überzeugung zusammen, daß der Aum-Klang unentwegt im Körper hallt: als Logos jenseits von Logos, anahata nada, wortwörtlich ›der nicht angeschlagene Klang‹, nur in völliger Stille zu vernehmen, die wiederum einzig und allein durch das Aufgehen im Kosmischen zu erreichen ist. Kein Wunder, daß der Klang Gott selbst (Shiva) verkörpert, sowohl in dem ewigen, unhörbaren, als auch in dem hörbaren Klang, der entsteht, wenn sich zwei Gebilde berühren. Der menschliche Körper ist dazu erschaffen worden, den unhörbaren Klang hörbar zu machen. Folgerichtig gilt Gesang als höchste aller Musikformen und der Körper als wichtigstes Instrument.
Eines Tages lauerte der Räuber Kenaram dem Dichter Bangshi Das auf, der in Begleitung einer Gruppe von Sängern reiste. Sie sangen und tanzten weltvergessen des Weges, selbst als sie die schreckliche Wildnis von Jalia Hawor durchschreiten mußten. Bangshi Das spielte auf der einsaitigen Ektara, die anderen trommelten und schlugen Schellen. Ihrem Gesang lauerte der todbringende Ruf ›Kali sei siegreich‹ auf, sogleich waren sie von Räubern umzingelt, und Kenaram forderte die Sänger auf, sich von ihrem Besitz zu trennen.
»Bediene dich an unserer zerrissenen Kleidung und an unserem Säckchen Reis«, antwortete Bangshi Das ruhig.
»Wer bist du, daß du mir so mutig entgegentrittst«, fragte Kenaram.
»Ich bin Bangshi Das.«
»Der Mann, dessen Lieder selbst die Steine zum Schmelzen bringen?«
»Die Steine mögen schmelzen, nicht aber das steinerne Herz eines Räubers.«
»Nun, mein steinernes Herz wird nicht schmelzen, das ist wahr, aber es gewährt dir trotzdem einen letzten Wunsch.«
»Dann ist es unser Wunsch, uns mit einem Lied vom Leben zu verabschieden.«
»Du kannst singen, solange ich mein Schwert nicht ziehe.«
Bangshi Das sang, wie noch nie zuvor ein Mensch gesungen hat. Er sang ein Lied, das Shiva seiner Frau Parvati auf dem Gipfel des Kailasch im Himalaja beigebracht hatte, sein Lied wurde zum Leben selbst, und der Räuber erkannte, daß er aus diesem Leben ausgeschlossen war. Er sprang auf, warf sein Schwert fort und flehte Bangshi Das an, das Lied weiter und immer weiter zu singen, denn er könne die Vorstellung nicht ertragen, daß es endet. Er bot dem Dichter alle Reichtümer an, über die er verfügte, und als dieser ablehnte, befahl er seinen Männern, alle in der Nähe vergrabenen Schätze auszuheben. Vor den Augen des Dichters warf er die Juwelen, Perlen und Münzen in einen Seitenarm des Ganges. Überzeugt von der Aufrichtigkeit des Räubers nahm ihn Bangshi Das als Schüler auf und lehrte ihn, durch Musik den Weg der Selbsterkenntnis zu gehen. (Womit der geneigte Leser erkennen kann, daß es verschiedene Wege gibt, Gewalt zu überwinden.)
»Das alte Märchen von Bangshi Das vermittelt, welche Bedeutung wir der Musik beimessen«, erklärte mir Amit Mukherjee, Direktor der Sangeet Research Academy und selbst ein vorzüglicher Sänger. »Musik kann und soll den Menschen völlig verändern. Sowohl den Vortragenden als auch den Zuhörer. Der Gesang ist die Mutter aller Musik.«
Minuten später war es mir vergönnt, einer Demonstration dieser Weisheit beizuwohnen. Die zehn Gurus (siehe Kap. 3) und zwanzig Schüler der Akademie saßen zusammen in der kleinen Aula auf Matten und sangen zu Ehren des Weltmusiktages, nur füreinander. Das Hauskonzert dauerte Stunde um Stunde, in den Improvisationen war die Zeit aufgehoben. Lehrer und Schüler versanken in den Gesang, sie zeigten ihre Begeisterung mit kurz ausgestoßenen ›wah‹-Rufen, und mit ihren Händen malten sie Klangbilder oder stießen ihre Finger in die Luft. Die Vorstellungskraft sei sehr wichtig für das Singen, hatte Amit Mukherjee mir gesagt.
In der Sangeet Research Academy – einzigartig in Indien – werden ausschließlich Sänger ausgebildet, und zwar
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