Gebrochene Schwingen
sie sah sich selbst zu der Zeit, als Ihre Mutter noch lebte.
Sie war zusammen mit Ihnen in der Vergangenheit. Jetzt ist sie in der Gegenwart, doch sie schwört, daß Menschen, die einst gelebt haben, von den Toten zurückgekehrt sind. Ich kann es nicht gut erklären, aber warten Sie ab, Sie werden es selbst sehen. Sie ist sehr ruhig und sehr aufmerksam, aber sie hat Angst, so wie jemand, der wirklich einen Geist gesehen hat.
Sie ist in einem Schockzustand. Ich muß sagen, Mrs.
Stonewall, das ist das erste Mal, wo es mir über den Kopf wächst, für Ihre Großmutter zu sorgen.«
»Aber Martha – «
»Und Mr. Rye Whiskey ist keine Hilfe für mich, wenn er die ganze Zeit von Geistern und Gespenstern redet. Alle Diener reden schon von Geistern.« Sie sah auf den Boden, als ob sie sich schämte.
»Ich merke schon, da kömmt noch mehr«, sagte ich schnell.
»Reden Sie weiter. Erzählen Sie mir auch den Rest.«
»Es ist dumm, Mrs. Stonewall. Es kommt, weil so viel im Augenblick passiert.«
»Was ist es, Martha? Haben Sie keine Angst und erzählen Sie es mir.«
»Nun gut. Ich wachte neulich nachts auf und…«
»Ja?«
»Und ich hörte Musik, Klaviermusik.«
Ich schaute sie an und mein Körper wurde so kalt, daß ich dachte, ich hätte alle Gefühle darin verloren. Einen Moment lang konnte ich nicht sprechen.
»Das müssen Sie sich eingebildet haben«, sagte ich und brachte nur noch ein Flüstern heraus.
»Ich weiß, Mrs. Stonewall. Ich habe bis jetzt auch mit niemandem darüber gesprochen. Aber, verstehen Sie, das gehört auch zu den Dingen, die Ihre Großmutter beunruhigen.
Mir gefällt das nicht. Sie schaut mich anders an, und sie verbringt Stunden damit, aus dem Fenster auf das Labyrinth zu sehen.«
»Das Labyrinth?«
Martha nickte langsam.
»Das macht sie auch in diesem Augenblick«, sagte sie. Ich schaute erst die Schlafzimmertür an und dann sie. Die Frau sah ernstlich verstört aus. Wie kam es, daß Tony das nicht bemerkt hatte? War es ihm dermaßen gleichgültig? Wenn das so weiterging, würde er Martha Goodman verlieren.
»Vielleicht kann ich sie wieder zu Sinnen bringen, wenn ich mit ihr rede.«
»Hoffentlich, Mrs. Stonewall. Meiner Meinung nach wäre sie besser aufgehoben an einem Platz, wo sie ärztliche Betreuung erhält.«
Langsam faßte ich nach der Klinke der Schlafzimmertür, dann trat ich ein. Jillian war dort, wo Martha gesagt hatte, daß ich sie finden werde – am Fenster mit Blick auf das Labyrinth.
Der schwere Duft ihres Jasminparfüms stach mir sofort in die Nase. Plötzlich wußte ich, was mir bei ihrer Verrücktheit so fremd vorgekommen war. Sie hatte Stunden damit verbracht, vor dem leeren Spiegelrahmen zu sitzen und sich zu schminken, aber sie hatte nicht ihr Lieblingsparfüm benutzt, an dessen Duft ich mich so gut erinnern konnte. Nun hatte sie es getan.
Anders als sonst war sie nicht mit einem ihrer feinen Nachthemden bekleidet. Ruhig saß sie da in einer schwarzen Chiffonbluse und einem schwarzen Rock. Als sie mich hörte und sich zu mir umdrehte, sah ich, daß sie kein Make-up trug, daß ihr Haar aber sauber nach hinten gebürstet und an den Seiten festgesteckt war.
»So«, sagte sie, »bist du also auch zurückgekommen.« Sie ließ darauf ein kurzes, trockenes Lachen hören.
»Jillian…«
»Aus deiner Hinterwäldlerstadt. Du bist weggelaufen, hast hier alles aufgegeben, um Lehrerin an einer Hinterwäldlerschule zu werden. Und nun tut es dir leid, leid um das, was du verloren hast.«
Sie wußte, wer ich war! Sie sah nicht mehr meine Mutter in mir! Sie wandte sich ab und schaute wieder aus dem Fenster.
Martha hatte recht, sie war verändert. Ihre Stimme klang anders, und der Ausdruck in ihren Augen war anders. Die Art, wie sie dasaß, war ebenfalls anders. Ihre Fahrigkeit, das irre Lachen, die vergeistigte Art, wie sie mit den Händen wedelte und durch das Zimmer huschte, waren weg. Es war, als hätte sie eine Schockbehandlung bekommen, als wäre sie mit Gewalt in die Realität zurückgestoßen worden.
»Wonach suchst du, Jillian? Warum sitzt du den ganzen Tag am Fenster und starrst auf das Labyrinth?«
Sie drehte sich blitzartig um. Zwei helle Tränen glitzerten in den Winkeln ihrer kornblumenblauen Augen. Augen, die den meinen so ähnlich sahen. Ich bekam eine Gänsehaut.
»Alle hassen sie mich«, sagte sie. »Alle sind gegen mich und geben mir die Schuld für alles, was passiert ist.« Sie hob ihr Spitzentaschentuch an ihr Gesicht und betupfte sich vornehm
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