Gedankenmörder (German Edition)
Kurzhaarschnitt. Sie hatte die 50 schon überschritten, trug aber einen Kapuzenpulli und darüber eine verwaschene Jeansjacke. Entschlossen ging sie auf Steenhoff und Petersen zu.
«Helga Meyer. Sie hatten mir eine Notiz in den Briefkasten geworfen, dass ich mich melden soll.»
Vergeblich versuchte Steenhoff die Frau in einem seiner jüngsten Fälle, an denen er bis zum Vortag noch gearbeitet hatte, unterzubringen. Vergeblich.
«Helfen Sie mir bitte auf die Sprünge», sagte er matt.
Verwundert schaute die untersetzte Frau ihn an.
«Ich bin die medizinisch-präparationstechnische Assistentin des Pathologen. Sind Sie denn nicht Herr Steenhoff?»
«Doch, doch. Entschuldigen Sie. Ich hatte gedacht, dass es sich bei dem Assistenten um einen Mann handelt.»
Helga Meyer lachte.
«In 90 Prozent aller Fälle haben Sie damit auch recht, Herr Kommissar.»
Die Assistentin schien eine vergnügte Frau zu sein. Während Navideh Petersen sich anbot, für die Zeugin ein Glas Wasser zu holen, wirkte Helga Meyer für einen Moment nachdenklich. «Wissen Sie, Herr Kommissar, entweder wird man bei dieser Arbeit im Laufe der Zeit depressiv oder man weiß seine Stunden auf Erden zu schätzen und – zu nutzen.»
Helga Meyer hatte sich für Letzteres entschieden. Selbst nachdem Steenhoff auf ihr Bitten kurz skizziert hatte, was an ihrem Arbeitsplatz passiert war, schien sie nur kurz bedrückt.
«Nee, das ist ja scheußlich. Die armen Eltern. Sagen Sie, muss man denen denn alles sagen?»
Steenhoff schwieg.
Aber Helga Meyer hatte auch keine Antwort erwartet. Mühelos wechselte sie das Thema und kam auf ihre Tochter zu sprechen.
«Wissen Sie, was die Kleine früher gesagt hat, wenn sie über meinen Beruf gesprochen hat?» Sie sah Steenhoff erwartungsvoll an. Der schüttelte den Kopf.
«Mami ist eine Krankenschwester für die toten Menschen. Das trifft es eigentlich besser als jede andere Berufsbezeichnung», sagte die Assistentin schmunzelnd.
In der nächsten Stunde ließ Steenhoff sich von der Zeugin erzählen, was genau ihre Aufgaben in der Pathologie waren.
Helga Meyer kam morgens um acht Uhr und machte in der Regel gegen 15 Uhr Feierabend. Sie stellte den Kontakt zu den Bestattern her, bahrte die Toten für eine kleine Andacht im Nebenraum auf und hielt, wenn sie es für notwendig hielt, auch schon mal die Hand eines trauernden Vaters oder einer verzweifelten Ehefrau.
«Gehört eigentlich nicht zu meinem Job, aber man ist ja Mensch», sagte Helga Meyer. Außerdem betreute sie die Kühlkammern und stand dem Pathologen bei Obduktionen zur Seite.
«Kennen Sie alle Pfleger und Schwestern, die die Verstorbenen zu Ihnen nach unten bringen?», wollte Petersen von ihr wissen. «Natürlich», entfuhr es Helga Meyer erstaunt. Ich arbeite doch schon bald ein Vierteljahrhundert hier. Auch wenn ich nicht so aussehe», fügte die Frau stolz hinzu.
«Und die Zivildienstleistenden?», hakte Steenhoff nach.
«Na, das ist nun doch etwas zu viel verlangt, oder Herr Kommissar? Die gucke ich mir kaum an. So junge Männer interessieren mich einfach nicht.»
Unbemerkt von Petersen zwinkerte die Frau Steenhoff zu.
Es war nicht das erste Mal, dass eine Frau mitten in der Vernehmung anfing, mit Steenhoff zu flirten. Unter seinen Kollegen galt er deshalb seit langem als «Frauentyp». Steenhoff hatte sich anfangs dagegen gewehrt. Doch inzwischen machte er sich die Anziehung, die er ungewollt auf manche Frauen ausübte, gezielt zunutze. Lächelnd zog Steenhoff seinen Stuhl ein paar Zentimeter näher an die Zeugin heran und senkte seine Stimme. Er spürte, wie Petersen hinter ihm unruhig wurde. Vermutlich fühlte sie sich ausgeschlossen. Für Helga Meyer jedoch schien es, als interessiere sich der Polizist im Augenblick nur für sie.
«Wenn Sie schon so lange in der Pathologie arbeiten, haben Sie doch bestimmt schon einiges erlebt?»
Helga Meyer lachte leise auf und legte für den Bruchteil einer Sekunde ihre Hand auf den Arm des Kommissars.
«Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen, die würden Sie nicht für möglich halten.»
Steenhoff ließ sie sich warm reden. Von der anhänglichen Witwe, die auch Monate, nachdem ihr Mann im Krankenhaus gestorben war, noch mit selbstgebackenem Apfelkuchen und frischer Sahne an der Tür der Pathologie anklopfte und wenige Meter neben den Kühlkammern mit Helga Meyer bei einer Tasse Kaffee über ihren Heinz-Dieter plauschen wollte. Oder über den jungen Pathologen, der vor einigen Jahren mitten
Weitere Kostenlose Bücher