Gedankenmörder (German Edition)
Mitte 60 .»
Erneut unterbrach Marlowski seinen Bericht. Er schien etwas in seiner Jackentasche zu suchen. Schließlich fummelte er eine Schachtel Zigaretten hervor, zündete sich eine an und steckte das Streichholz in die Blumenerde des großen Ficus benjaminii. Dann setzte er sich auf die Ecke von Steenhoffs Schreibtisch.
Durch sein Gewicht kippten zwei Bilderrahmen mit Fotos von Marie und Ira auf dem Schreibtisch um. Doch Marlowski schien nichts zu bemerken. Während Steenhoff seine Familie wieder aufrichtete, fuhr Marlowski ungerührt fort: «Die beiden Frauen hatten etwas gemeinsam. In ihrer Scheide fanden wir – Tücher. Rote Seidentücher.»
«Ein echter Ästhet», sagte Steenhoff sarkastisch und schüttelte den Kopf.
«Das würde ich nicht sagen», entgegnete Marlowski ernst. «Die ältere der beiden Frauen war früher an Krebs erkrankt und hatte dabei ihre linke Brust verloren. Ihre rechte Brust hat sie allerdings erst nach ihrem Tod eingebüßt.» Marlowski inhalierte tief. «Der Kerl hat sie ihr einfach abgeschnitten. Sie lag zwischen ihren Beinen.»
Fassungslos starrte Steenhoff seinen Kollegen an.
«Verdammt, warum hast du mich nicht angerufen? Bei solch einem Fund muss einer von meinen Leuten dabei sein. Du bist doch auch schon lange genug dabei, um das zu wissen.»
Verärgert schaute Steenhoff Marlowski an. Der hatte es plötzlich eilig. Marlowski drückte seine Zigarette in der Erde eines Drachenbaumes am Fenster aus, versenkte den Stummel gleich daneben im Topf und wandte sich zum Gehen.
«Reg dich ab. Wir haben alles haarklein im Tatort-Befundbericht festgehalten. Aber sieh zu, dass du den Kerl kriegst, Frank. Der Typ ist total krank. So einer hört nicht auf.»
An diesem Abend kam Steenhoff erst spät nach Hause. Als er in seine kleine Wohnstraße wenige Kilometer hinter der Bremer Landesgrenze abbog, sah er, dass im Haus noch Licht brannte. Tatsächlich war Ira noch wach. Statt wie gewöhnlich als Erstes nach seiner Arbeit zu fragen, wollte Ira mit ihm über Marie sprechen. Aber er konnte sich kaum auf das Gespräch über den anstehenden Elternabend in Maries Schule konzentrieren. Ira schien seine Zerstreutheit nicht zu bemerken und plauderte, während sie beide nebeneinander im Bett lagen, unbefangen weiter. Über Maries neue Freunde auf der Jugendfarm in Bremen und darüber, dass sich ihre Tochter endlich etwas zu öffnen schien.
«Sie ist nächste Woche auf der Farm zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, zu der auch einige Jungs kommen werden», schloss Ira ihren familiären Kurzbericht.
Steenhoff ertappte sich dabei, dass er seiner Frau nicht richtig zugehört hatte. Als sie ihn erwartungsvoll anschaute, rieb er sich verlegen über die Augen.
«Mensch, du bist ja total müde», stellte Ira mitfühlend fest und ließ ihn diesmal gnädig entkommen. «Du musst mir morgen früh mal erzählen, was heute bei dir los war, okay?» Zärtlich kuschelte sie sich an ihren Mann. «Und dann erzähle ich dir von meinen neuen Plänen. Du wirst umfallen», versprach sie und lachte leise in sich hinein.
An jedem anderen Abend hätte eine solche Ankündigung Steenhoff alarmiert aufhorchen lassen. Ira sprühte vor Ideen und stürzte sich regelmäßig von einem Großprojekt ins nächste. Oftmals sogar mit finanziellem Erfolg. Sie selbst bezeichnete sich als Künstlerin. Steenhoff fand die Bezeichnung «Lebenskünstlerin» passender für seine Frau. Da Ira dabei stets eine Spur Ironie herauszuhören meinte und allergisch auf diese Bezeichnung reagierte, behielt er den Zusatz inzwischen für sich.
Am nächsten Morgen hatten sie nur kurz Zeit füreinander. Marie hatte über Nacht Zahnschmerzen bekommen, und Ira musste sie zum Zahnarzt fahren. Die Praxis befand sich in einem Nachbardorf, rund zehn Kilometer entfernt. Einer von vielen Nachteilen, die das Leben auf dem Lande mit sich brachte, wie Steenhoff fand. Bis die Kinder selbst Auto fahren konnten, mussten die Eltern sie ständig kutschieren. War dann endlich der Führerschein geschafft, lag man nachts wach, bis die Tochter heil aus der Discothek zurückgekehrt war.
Jedes Wochenende verunglückten junge Leute irgendwo im Landkreis auf dem Weg von oder zu einer Party. Nein, wenn es nach ihm ginge, dann wären sie längst wieder in eines der schönen Altbremer Häuser in die Stadt gezogen – am liebsten in Peterswerder, direkt an der Weser oder im etwas vornehmeren Stadtteil Schwachhausen. Doch bislang stieß er mit seinen Wünschen bei
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