Gedankenmörder (German Edition)
Marie schien überhaupt nicht zu verstehen, worum es ihm eigentlich ging. Aufgebracht schimpfte sie auf die Bremer Polizei, die sich überhaupt nicht für «fiese Tierquäler» interessiere. Als sie auf ihren Ziegenbock Ferdinand zu sprechen kam, verlor sie kurzzeitig die Fassung und begann zu schluchzen.
«Jemand hat ihm einfach den Bauch aufgeschlitzt. Kannst du dir das vorstellen? Was hat das Tier ihm getan? Ich hasse diesen Menschen. Ich hasse ihn. Und deine Kollegen tun so, als wenn Ferdinand es gar nicht wert sei, dass man seinen Mörder fasst.»
Wütend und mit verweintem Gesicht sah sie ihren Vater an. «Und deswegen habe ich gesagt, dass ich mit der Geschichte an die Zeitung gehe.»
«Aber die Tochter eines Kommissars kann doch nicht die Kollegen ihres Vaters unter Druck setzen. Das gehört sich nicht, Marie. Da hätten wir gemeinsam nach anderen Lösungen suchen müssen», entgegnete ihr Steenhoff.
Marie sah ihn trotzig an. «Es gehört sich auch nicht, dass man erstochene und gequälte Tiere als Sachbeschädigung abtut. Und wie hättest du mir denn helfen können? Du hast mir doch schon vor Monaten, als du noch nicht so viel zu tun hattest, am Telefon erklärt, dass du nicht für ermordete Hasen in dieser Stadt zuständig bist. Und ich nehme an, dass dasselbe auch für junge Ziegenböcke gilt. Also, was für eine Hilfe könntest du da schon für mich sein?»
Einen Augenblick war Steenhoff angesichts der Vorwürfe sprachlos. Das Gespräch war ihm völlig aus dem Ruder gelaufen. Er hatte seiner Tochter ins Gewissen reden wollen. Doch stattdessen hatte sie ihm eine regelrechte Standpauke gehalten. Aus der Sicht eines Kindes oder eines jungen Menschen, der Dinge nur nach Recht und Gerechtigkeit und nicht nach dem Machbaren beurteilt, konnte er ihre Gefühle sogar verstehen. Aber sie musste sich auch in seine Lage versetzen. Als er einen zweiten Versuch unternahm, zog sich Marie völlig in sich zurück. Steenhoff hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu reden. Aufgewühlt verließ er schließlich ihr Zimmer.
An diesem Abend hätte Steenhoff gern ein eigenes Schlafzimmer gehabt. Stattdessen zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück und hörte bis Mitternacht über Kopfhörer Jazzmusik. Alles schien ihm momentan zu misslingen. Er hatte keine Ahnung, ob sie den Mann, den sie seit Wochen jagten, jemals kriegen würden. In ihm machte sich Hoffnungslosigkeit breit. Er wusste, der Unbekannte würde wieder zuschlagen. Es war nur eine Frage der Zeit. Sie aber waren ihm kaum näher gekommen. Und das, obwohl ihn mehrere Zeugen gesehen hatten und es inzwischen ein Phantombild von ihm gab. Selbstsicher hinterließ er seine DNA an den Tatorten und verwischte zugleich alle anderen Spuren, die ihn hätten verraten können. Der Mann war ihm ein Rätsel. Ebenso wie die grausamen Rituale, die er an seinen Opfern zelebrierte.
‹Wir haben eine Zeichnung von ihm, und ich kann mir trotzdem kein Bild von ihm machen›, dachte Steenhoff. Er war als Polizeibeamter schon vielen Mördern und Totschlägern in seinem Leben begegnet. Aber dieser Mann passte in kein Schema. ‹Ich begreife ihn nicht, und er ist nicht greifbar›, dachte Steenhoff. ‹Es ist, als jagten wir ein Phantom.›
23
Das gemeinsame Frühstück am Morgen verlief schweigsam. Steenhoff empfand die Stimmung als unangenehm. Er fühlte Ira gegenüber noch immer einen leichten Groll. Was Marie betraf, konnte er seine Tochter immer mehr verstehen. In der Nacht hatte er beschlossen, sich selbst um den oder die Verrückten zu kümmern, die nichts Besseres zu tun hatten, als Tiere zu töten. Das war er seiner Tochter schuldig. Wozu hatte sie schließlich einen Vater, der Polizist war? Seinen Kollegen würde er davon nichts erzählen, sondern versuchen, neben seiner sonstigen Arbeit, dem Täter auf die Spur zu kommen.
Doch zuvor musste er den anderen Fall abgeschlossen haben. Da er keine Ahnung hatte, wie viele Wochen oder Monate sich die Ermittlungen noch hinziehen würden, wollte er Marie noch nichts von seinem Entschluss mitteilen. Sie würde ihm ansonsten Tag für Tag mit ihren Nachfragen in den Ohren liegen.
Was er jetzt brauchte, war Ruhe, sowohl in der Familie als auch in den Medien oder im Präsidium. Steenhoff spürte, dass es irgendwo den «Anpacker» gab, ein Detail, das sie bis jetzt falsch bewertet oder ganz übersehen hatten. Aber wo? Während er stumm seinen Kaffee trank, nahm er sich vor, in den nächsten Tagen die Akte noch einmal gründlich
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