Gedenke deiner Taten
– oder vielleicht ahnte er, dass sie die Lüge aufgedeckt hatte. Sie sollte sich lieber ebenfalls unterstellen.
Kate befestigte die Leine um eine krumme Birke am Strand. Der Regen prasselte auf sie ein und wurde ohrenbetäubend laut. Beim nächsten Blitz sah Kate eine Gestalt auf sich zueilen.
Im nächsten Augenblick wurde sie von zwei Händen gepackt und über den Strand geschleift. Der Mann war größer und kräftiger als der andere. Scheinbar mühelos zog er sie über die Steine, während sie strampelte und schrie und sich wand.
Die Panik hatte von ihrem Verstand Besitz ergriffen, aber gleichzeitig waren ihre Urinstinkte erwacht. Sie kämpfte mit aller Kraft, aber es nützte nichts. Ihr Atem wurde immer flacher, und die Arme des Mannes hielten sie wie ein Schraubstock.
Beim nächsten Blitz sah sie Rob auf dem Strand stehen.
»Rob!«, krächzte sie verzweifelt. Sie bekam kaum noch Luft, und ihre Lungen brannten. Vor ihren Augen tanzten weiße Sterne. »Hilfe!«
Endlich kam Rob näher, ein zusammengerolltes Seil in der Hand. Kate stieß einen schwachen, erstickten Schrei aus. Außerdem, wer sollte sie schon hören? Ihre fünfundsiebzigjährige Mutter? Die beiden Teenager? Der Sturm verschluckte alle Geräusche. Kate war auf sich gestellt. Sie musste an Sean und Brendan denken, und sie wünschte sich zum wiederholten Mal, sie wären mit Sean zusammen gefahren. Was hatten diese Männer vor?
Aber anstatt sie zu fesseln, schlang Rob das Seil um den Hals des großen Mannes und zog es nach Kräften zu. Kate kam frei und stürzte auf die Kiesel. Endlich ließ der Druck nach, und Luft strömte in ihre Lungen.
Sie lag kraftlos da, während die Männer miteinander rangen und zu Boden gingen. Gelähmt vor Angst beobachtete Kate den bizarren Tanz. Immer noch nach Luft schnappend versuchte sie davonzukriechen. Ein Blitz zuckte, ein Knall ließ Kate zusammenfahren.
Ihre Mutter hatte ihr hier auf der Insel das Schießen beigebracht. Sie erkannte das Geräusch auf Anhieb wieder, konnte aber nicht bestimmen, aus welcher Richtung es gekommen war. Die Männer kämpften immer noch wutentbrannt, wälzten sich wie ein Knäuel über den Strand.
Das Tosen und der Wind wurden unerträglich, und eine lähmende Angst durchfuhr Kate. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, aber ihre Instinkte kannten das Ziel. Sie wollte zu ihrem Kind. Kate rappelte sich auf und rannte so schnell sie konnte zum Gästehaus.
SIEBENUNDZWANZIG
I n seinem ganzen Leben hatte Dean Freeman nur einen Wunsch gehegt: nicht als der nichtsnutzige Versager zu enden, für den sein Dad ihn gehalten hatte. Mittlerweile erschien der Wunsch ihm wie eine ferne Erinnerung, wie ein Traum, an den man sich nach dem Aufwachen nur bruchstückhaft erinnert. Er war müde, und er fror. Brad beugte sich keuchend über ihn wie ein Monster und starrte ihn aus überquellenden Augen an. Vor langer Zeit waren sie Freunde gewesen. Ja, Brad war immer schon ein kaltherziges Arschloch gewesen, aber früher hatte er den Kerl dennoch gemocht. Nie hätte er gedacht, dass es mit ihnen einmal so enden würde. Sie hatten am Clearwater Beach unter Palmen gelegen, Bier getrunken und den Kasten unter einer Decke versteckt, damit die Polizei ihn nicht sah.
Der Schmerz war so schneidend, dass Dean verstummte. Er dehnte sich vom Bauch bis in die Beine aus wie ein stummer Schrei. Mit jedem Atemzug quoll mehr Blut aus ihm heraus, das sich warm und klebrig anfühlte. Dean hatte keine Angst mehr. Unglaublich, aber so war es. Emily, es tut mir leid.
Warum war er trotz aller guten Absichten und Vorsätze vor der Polizei geflohen und hier gelandet, auf einem Felsen mitten in einem großen, kalten See?
Im Nachhinein betrachtet hatte das Schicksal beim Streit mit Ronny seinen Lauf genommen. Wenn Dean nur in der Lage gewesen wäre, sich zusammenzureißen, die gut gemeinte Kritik seines Bosses anzunehmen und seinen Job zu machen, wäre es nie so weit gekommen. Nur während jener kurzen Phase, in der er gearbeitet und bei Emily gewohnt hatte, war er jemals glücklich gewesen. Plötzlich verstand er, warum alle so leben wollten – arbeiten, sich verlieben, heiraten, eine Familie gründen. Die meisten Leute lebten ohne Luftschlösser und waren nicht ständig auf der Flucht vor der Vergangenheit.
»Sag mir, wo der Safe ist.« Brads Stimme klang fremd und tief. »In welchem der drei Häuser ist der Safe?«
Dean wollte antworten. Aber er konnte nicht. Er nahm nichts mehr wahr als den riesigen Schatten, der
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