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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Suche nach dem Fotoalbum. Es musste hier irgendwo sein. Joe hatte vorgeschlagen, es auf den Wohnzimmertisch zu legen, damit ihre Gäste sich ein Bild von der Insel machen konnten, wie sie früher war. Sie konnten die alten Schwarzweißfotos von dem Haus und der Insel mit den spektakulären Profiaufnahmen in Die schönsten Privathäuser der Adirondack-Inseln vergleichen, einem Bildband, in dem das Haupthaus von Heart Island als ein Kleinod der Region angepriesen wurde.
    Joe hatte den Vorschlag nur gemacht, um seine Eitelkeit zu befriedigen. Er hatte das alte Wohnhaus zu einer bescheidenen Gästeunterkunft umgebaut und das neue Haupthaus persönlich entworfen. Alle sollten wissen, dass er ihrer Insel unwiderruflich seinen Stempel aufgedrückt hatte. Angeblich hatte er ihr den Neubau zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt, aber zu diesem Zeitpunkt hatten großzügige Geschenke in ihrer Ehe längst ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Nichtsdestotrotz war sie vom neuen Haus begeistert. Wenigstens bis vor Kurzem hatten die Geister der Vergangenheit es verschont.
    Birdie fand das Album in der dritten Kiste. Caroline hatte jahrelang verzweifelt gebettelt, sie wollte es unbedingt haben, besonders nach dem Tod der Mutter. Aber obwohl Birdie die Fotos nicht mochte, hatte sie es ihr nicht gegeben, selbst als Caroline schon auf dem Sterbebett lag. Ich habe überall danach gesucht, Caroline. Es tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, wo es sein könnte . Wenn Birdie daran zurückdachte, wurde sie von heftigen Gewissensbissen geplagt. Sie hatte sich kalt und gemein verhalten, geradezu niederträchtig, und hatte damit die schlimmsten Vorwürfe der Schwester wahr werden lassen. Aber warum sollte sie anders handeln, wenn alle von ihr ohnehin das Schlechteste dachten?
    Sie nahm das Album aus der Kiste mit dem Etikett »Erinnerungen« und drehte unwillkürlich den Kopf zur Seite, weil ihr der Geruch von Schimmel und Staub entgegenschlug. Sie musste niesen, und ihr Körper erzitterte. Mit dem Album auf dem Schoß sank sie zu Boden.
    Birdies Mutter hatte die Insel von ihrem Onkel geerbt, der sie wiederum beim Pokern ihrem betrunkenen Besitzer abgenommen hatte. Birdie wusste nicht, ob die Geschichte stimmte. Ihre Mutter hatte es ihr so erzählt, und sie hatte auch von Inselgeistern gesprochen. Nach dem Vorfall am Anleger musste Birdie wieder daran denken, und dann fiel es ihr wieder ein.
    Einmal hatte ihre Mutter in der Nähe des steinigen Strandes, wo Birdie zum Schwimmen ins Wasser watete, ein kleines, nacktes Mädchen gesehen. Es zeigte sich nur bei dichtem Nebel. Und die junge Frau auf der höchsten Erhebung der Insel, dem »Aussichtsfelsen«, die Richtung Festland blickte. »Sie macht sich Sorgen« , hatte ihre Mutter gesagt. »Sie wartet auf jemanden, der niemals kommt.« Und anscheinend stromerte auch ein ruheloser alter Mann bei Vollmond herum.
    Mutter war empfindlich gewesen, sie neigte zu Migräne und zog sich oft in abgedunkelte Zimmer zurück. Der einzige Mensch, der die Inselgeister ebenfalls gesehen zu haben glaubte, war Caroline. Niemand schenkte ihr Glauben, weil sie Mutters Liebling war und alles gesagt oder getan hätte, um ihr zu gefallen.
    Genauso wenig, wie Birdie an den Osterhasen oder den Weihnachtsmann glaubte (das hatte Gene ihr vorzeitig ausgetrieben), glaubte sie an Mutters Geister. Während der vielen Sommerurlaube auf der Insel hatte sie nie eine Beobachtung gemacht, die auf Geister schließen ließe.
    Manchmal erschreckte sie ein nächtlicher Eulenschrei fast zu Tode. Dann kroch sie zu ihrer Schwester ins Bett. Caroline schmiegte ihren kleinen, warmen Körper an Birdie. »Keine Angst«,flüsterte sie mit ihrer süßen Kinderstimme, »ich passe auf dich auf . «Und Birdie glaubte ihr, obwohl Caroline zwei Jahre jünger und viel kleiner war. Immer schon war sie mutiger und entschlossener gewesen als ihre Geschwister. Aber bis heute hatte Birdie auf Heart Island nichts gesehen, was sie nicht verstehen oder rational erklären konnte.
    Im Haupthaus klingelte das Telefon, ein leises Zirpen in der Stille. Das konnte nur Kate sein. Joe machte sich nicht die Mühe, sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Und Theo hatte längst abgesagt.
    Die Erinnerung an Caroline stimmte Birdie missmutig und machte sie Kate gegenüber aggressiv. Kate und Caroline waren unzertrennlich gewesen. Sogar ihre eigene Tochter zog Caroline vor! Nein, sie stürzte jetzt nicht Hals über Kopf zum Haupthaus. Was immer Kate ihr mitzuteilen

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