Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
Vom Netzwerk:
Reaktion hatte Birdie nicht gerechnet. Nicht, dass er zu Gefühlsausbrüchen neigte. Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er ihr kein Wort glaubte. Die Vorstellung war tatsächlich bizarr, denn die Nachbarinsel war seit jeher unbewohnt. Damals lebten nur wenige Menschen in der Gegend.
    Aber Birdie wusste, was sie gesehen hatte.
    »Er hat sie geküsst«, sagte Birdie, »anders als du.« Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch. Ihre Eltern starrten sie an, und ihr Vater runzelte die Stirn. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war unergründlich, das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.
    »Ein Kuss wie im Kino«, fügte Birdie hinzu, weil die Erwachsenen nichts sagten. Sie fürchtete, ausgeschimpft zu werden, aber ihre Eltern fingen zu lachen an. Tränen der Scham und der Wut stiegen Birdie in die Augen. Ihre Mutter kam kichernd ans Sofa und reichte ihr den warmen Kakao.
    »Tja, Birdie«, sagte sie und setzte sich, »dann hast du wohl einen Inselgeist gesehen.«
    Birdie sprang auf, rannte in ihr Zimmer und schlug die Tür so fest zu, dass Gene und Caroline aufwachten. Ihre Schwester wollte wissen, warum sie weinte, aber Birdie schwieg verbissen. Eine Weile später hörte sie die ganze Familie am Frühstückstisch lachen. Niemand glaubte ihr. Niemand stellte sich auf ihre Seite.
    Selbst jetzt noch, als Fünfundsiebzigjährige, konnte Birdie die Scham und die Wut fühlen, als wäre es gestern passiert. Bis zum heutigen Tag ärgerte sie sich über Gelächter aus dem Nebenzimmer, auch wenn sie wusste, dass es nichts mit ihr zu tun hatte.
    Wieso war sie überhaupt in die Hütte gekommen, um nach dem albernen Album zu suchen? Das trübe Licht der Schreibtischlampe flackerte. Der Wind nahm zu. Die Luft roch klar und frisch nach Regen. Die Hütte hatten sie vor ein paar Jahren errichten lassen, als Gästehaus für die Kinder. Birdie hatte Brendan und Chelsea eine Freude bereiten wollen. Sie hatte gehofft, die Kinder fänden es abenteuerlich, allein dort zu übernachten.
    »Sie sind noch Kinder, Mutter«, hatte Kate in jenem gereizten, besserwisserischen Tonfall gesagt, den sie Birdie gegenüber immerzu anschlug, »sie schlafen im selben Haus wie wir.«
    Die Kinder waren damals tatsächlich noch recht jung, dachte Birdie. Chelsea neun und Brendan erst drei.
    Trotzdem hatte sie gefragt: »Was soll ihnen hier draußen schon zustoßen?«
    »Ach, Mutter.« Kate hatte Birdie angesehen, als wäre sie schwachsinnig. »Im Ernst.«
    Kate erdrückte die Kinder. Vermutlich hatte sie nichts Besseres zu tun, als sie zu umsorgen. Deshalb hatten die Kinder noch nie in der Hütte übernachtet. Sie wollten lieber bei Kate und Sean im Gästehaus schlafen. Aus der Hütte war eine Art Lagerraum für Bettwäsche und Vorräte geworden, für die Erbstücke von Birdies Eltern, alte, gerahmte Fotos, die Birdie weder aufhängen noch wegschmeißen wollte. Und alte Kleidung aus Kindertagen lagerte dort, fadenscheinige, von Motten zerfressene Kleidungsstücke, die man nicht einmal mehr verschenken konnte. Sie lagen seit Jahrzehnten in derselben Truhe.
    Das Bild, nach dem Birdie gesucht hatte, klebte auf der letzten Albumseite. Sie hatte es nie ganz vergessen können, wie so viele andere Bilder von damals, die sie zu verdrängen suchte. Der heutige Tag hatte ihrem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen. Neben den Fotos die säuberliche Handschrift der Mutter: »Gene und Birdie bei der ersten Segelstunde!«, »Lana und Jack (Mommy und Daddy) geben sich das Ehegelübde zum zweiten Mal!«, »Caroline, unser kleines Mäuschen!« Mit einer Ausnahme stammten alle Fotos aus den Sommermonaten. Im Winter besuchten sie die Insel nie. Erst Joe hatte eine Heizung einbauen lassen, so dass sie auch in der kalten Jahreszeit herkommen konnten. Wenn es kühl wurde, träumte Birdie bis zum Frühjahr vom Sommer auf Heart Island, der ihr so fern und unerreichbar erschien wie ein Traum.
    Das Foto zeigte ihre Mutter neben einem schlanken, hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann. Er hatte feine Gesichtszüge und war sehr blass. Lana saß auf dem Schaukelstuhl, der früher auf der Veranda stand. Der Mann stand neben ihr und starrte in die Ferne. Birdies Mutter schaute in die Kamera. Nichts an dem Foto wäre verdächtig oder unangemessen gewesen, wenn nicht … wenn ihre Mutter nicht die Oberlippe hochgezogen hätte. Ihre linke Hand umklammerte die Lehne. Die rechte Hand streckte sie dem Mann entgegen, während er seine wegzog. Es sah aus, als hätten die beiden sich vor Sekunden

Weitere Kostenlose Bücher