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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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sah aus wie ein schwereloser Geist. Birdie wollte sie rufen, aber sie wagte es nicht, die Stille mit ihrer Stimme zu zerreißen und womöglich die ganze Familie aufzuwecken. Also nahm sie die Verfolgung auf.
    Ihre Mutter stieg ins Boot, machte die Leinen los und glitt scheinbar lautlos über den Kanal. Am Strand der Insel, die heute John Cross und seiner Frau gehörte, stand ein Mann. Damals gab es dort noch keinen Anleger. Birdies Mutter warf ihm die Leine zu, und er zog das Boot auf den Strand.
    Birdie schaute zu, wie ihre Mutter sich in die Arme des Fremden warf. Der Mond erhellte ihr bleiches Gesicht. Birdie schnappte nach Luft, als der Fremde, ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann, ihre Mutter auf den Mund küsste. Es sah aus, als versuche er, sie zu verschlingen. Ihre Mutter schien sich ihm hinzugeben. Sein schwarzer Mantel verdeckte ihr weißes Nachthemd.
    Der Fremde und Birdies Mutter verschwanden zwischen den Bäumen. Nie im Leben hatte Birdie ihre Eltern sich so küssen gesehen. Nur gelegentlich gaben sie sich einen trockenen Schmatzer auf die Wange oder den Mund. Manchmal tätschelte ihr Vater den Hintern ihrer Mutter, oder ihre Mutter strich ihm das Haar aus der Stirn. Aber einen langen Kuss auf den Mund – niemals. Birdie konnte sich ihre Mutter nicht als begehrenswerte Frau vorstellen. Birdie schlich zum Anleger. Trotz der Kälte würde sie warten, bis ihre Mutter zurückkam. In einer Kiste auf dem Anleger fand sie eine alte Decke. Sie legte sich auf einen der Liegestühle, von denen aus die Familie manchmal den Sonnenuntergang beobachtete. Sie wartete und wartete, aber ihre Mutter kam nicht zurück. Irgendwann döste sie ein.
    Als sie aufwachte, tauchte die Sonne hinterm Horizont auf. Das Boot war wieder am Anleger festgemacht. War ihre Mutter an der schlafenden Birdie vorbeigelaufen, ohne sie zu bemerken? Oder hatte sie sie absichtlich hier draußen zurückgelassen?
    »Birdie! Birdie!«
    Birdie hörte die Stimme ihrer Mutter und schaute zum Haus hinauf. Ihre Mutter stand auf der Veranda, sie trug eine schmale weiße Hose, eine blau-weiß gestreifte Bluse und rote Segelschuhe.
    »Mama! Ich bin hier!«
    »Birdie Heart!« Ihre Mutter lief zu ihr.
    »Was zum Teufel tust du hier unten? Ich war außer mir vor Sorge!«, schimpfte sie, als sie den Anleger erreichte. Lana nahm ihre Tochter in die Arme, und Birdie genoss den seltenen Moment ungeteilter Aufmerksamkeit.
    »Ich habe überall nach dir gesucht«, sagte Lana und drückte Birdie an sich. »Meine Güte, Birdie, du bist ja völlig durchgefroren!«
    »Ich habe euch gesehen, Mama«, sagte Birdie und drückte ihr Gesicht an Lanas Schulter. »Du bist mit dem Boot zur anderen Insel gefahren. Er hat dich geküsst . Wer war er?«
    Ihre Mutter wich zurück und nahm Birdies Gesicht in beide Hände. Sie lächelte belustigt.
    »Oh, Birdie«, rief sie, »Kleines, du hast geträumt!«
    »Nein«, sagte Birdie, »ich habe nicht geträumt.«
    »Doch, natürlich, mein Schätzchen«, sagte Lana. Sie klang so heiter, so überzeugt. Sie legte Birdie einen Arm um die Schulter und führte sie zum Haus. Birdie zitterte vor Kälte. Sie wollte eine Erklärung von ihrer Mutter, aber die schwieg. Sie wickelte Birdie in eine Decke und legte sie aufs Sofa. Birdie schaute zu, wie ihre Mutter ihr in der offenen Küche Kakao aufwärmte. Ihre Geschwister schliefen noch.
    »Ich habe euch gesehen«, wiederholte Birdie. Aber ihre Mutter würde nichts mehr dazu sagen, dabei wollte sie unbedingt verstehen, was sie gesehen hatte.
    Ihre Mutter hatte volles, dunkles Haar. Keines der Kinder hatte ihre Haarpracht geerbt. Sie hatten blonde, dünne Haare. Lana schüttelte den Kopf, und ihre Locken tanzten.
    »Auf der Insel wohnt niemand«, sagte sie. Schon klang sie strenger. »Das weißt du.«
    Zerzaust und müde kam ihr Vater in die Küche.
    »Was ist denn los?«
    »Ich habe Birdie auf dem Anleger gefunden«, sagte Lana. Sie sah kurz besorgt aus, dann setzte sie ihr wohlbekanntes Lächeln auf. »Unsere Tochter glaubt, ich wäre zu einem heimlichen Rendezvous auf der Nachbarinsel gewesen.«
    Birdies Vater öffnete den Schrank, kratzte sich am Kopf. »Wirklich?«
    »Ja.« Birdies Mutter lachte, aber es klang gezwungen. »Natürlich hat sie alles nur geträumt.«
    Er schwieg, und Birdie machte sich auf einen Haufen Fragen gefasst. Ihr Vater war ein neugieriger Mensch.
    »Haben wir kein Milchpulver mehr?«, fragte er. Warum klang er so fremd? Spielte er den Gleichgültigen?
    Mit dieser

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