Gedenke deiner Taten
hatte, konnte bis zum Morgen warten. Und falls sie ebenfalls absagen wollte, konnte das auch bis morgen warten, wenn sie sich wieder im Griff hatte.
Birdie blätterte die dicken Albumseiten mit dem Transparentpapier um. Da waren sie, mit dünnen Beinchen, zerstrubbeltem Haar und breitem Grinsen. Gene trug seltsame Shorts, Birdie und Caroline passende Kleidchen. Waren sie wirklich so klein gewesen? Gene war ein hübsches Kind gewesen, flachsblond, mit sonnengebräunter Haut und strahlend grünen Augen. Er war zu einem richtigen Frauenschwarm herangewachsen, später war er durch Erfolg und Reichtum fett geworden. Aber selbst dann schienen ihn alle zu umschwärmen.
Caroline war ein zartes Püppchen, aus dem eine hübsche Frau, wenn auch keine Schönheit wurde. Und Birdie – sah sie wirklich auf jedem Bild so mürrisch drein? Wirkte sie feindselig? Doch, manchmal lächelte sie auch. Aber es war ein aufgesetztes, unsicheres Fotolächeln, das zu verfliegen drohte, bevor die Blende zuschnappte. Oft hielt sie die Augen geschlossen. Bis ins Erwachsenenalter hinein hatte Caroline ihrer Schwester vorgeworfen, dass sie absichtlich blinzelte, um alle Familienfotos zu ruinieren. »Ich habe empfindliche Augen«, hatte Birdie sich verteidigt, »es liegt am Blitzlicht.« Aber das stimmte nicht. Birdie wollte nicht fotografiert werden, schon gar nicht an der Seite von Caroline, die immer so hübsch aussah, immer jünger und fröhlicher zu werden schien. Neben ihr sah Birdie wie ein alte Hexe aus. Hast du gar nichts zu geben, Birdie? Das war eine von Carolines letzten Fragen gewesen. Birdie wusste bis heute nicht, wie sie gemeint gewesen war. Immerhin hatte sie ihr Leben der ehrenamtlichen Arbeit gewidmet.
Wenn es auf der Insel Nacht wurde, war die Dunkelheit undurchdringlich. Bei klarem Himmel hatte man den Eindruck, mehr Sterne als Himmel zu sehen. Für Stadtmenschen ist der Sternenhimmel ein sehr faszinierender Anblick. Heute jedoch waren weder Mond noch Sterne zu sehen. Alles war hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden, die sich über den See geschoben hatte. Es sah bedrohlich aus, aber bis jetzt war alles still. Durchs Fenster konnte Birdie die anderen Inseln als winzige, ferne Lichtpunkte erkennen. Über dem Festland hing ein Schimmer. Nur hier draußen war die Nacht tintenschwarz, und der Lichtkegel einer Taschenlampe durchschnitt die Dunkelheit wie ein schweres, schwarzes Tuch. Birdie schaute zum kleinen Seitenfenster hinaus und sah die beleuchtete Veranda des Haupthauses. Das Gästehaus lag im Dunkeln.
Sie fand das Foto, nach dem sie gesucht hatte. Früher war das alte Haupthaus das einzige Gebäude auf der Insel gewesen, abgesehen vom Klohäuschen. Gene hatte die Mädchen nachts dorthin begleiten müssen, übermüdet und verärgert hatte er ihnen den Weg geleuchtet, beeil dich, Birdie, mir ist eiskalt! Damals gab es drei Schlafzimmer. Ihre Eltern residierten natürlich im großen Zimmer. Birdie und Caroline teilten sich das kleinere daneben. Gene durfte zu seinem großen Vergnügen in der Dachkammer schlafen, denn er war der Älteste. Auf dem Foto hatte Birdie eine Hand an die alte Fliegentür gelegt. Egal, wie oft man sie ölte, sie gab ein langgezogenes Quietschen von sich und fiel mit lautem Geklapper zu, wenn man sie nicht vorsichtig schloss – worum Mutter sie immer wieder gebeten hatte. Wenn Birdie versuchte, sie langsam zu schließen, schien ihr die Tür absichtlich zu entgleiten und krachend zuzufallen. Kinder, die Tür! Ich bitte euch!
Nachts waren immer dieselben Geräusche zu hören. Ihr Vater schnarchte. Die Wellen schoben das Boot gegen den Anleger. Caroline atmete tief und gleichmäßig. In Birdies Erinnerung schlief die Schwester immer tief und fest. Und dann eines Nachts hatte sie die Tür gehört. Das Geräusch hatte sie geweckt und hallte durch ihr Bewusstsein, obwohl es im Haus totenstill war. Wer trieb sich mitten in der Nacht, wenn alles schlief, draußen herum?
Birdie kletterte aus dem Bett und schlich barfuß aus dem Zimmer. In jener Nacht stand der Vollmond hoch am Himmel und tauchte alles in ein silbriges Licht. Birdie warf einen Blick ins Elternschlafzimmer. Ihr Vater lag mit nacktem Oberkörper und weit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken. Ihre Mutter war verschwunden.
Schon als Kind hatte sich Birdie ihren Ängsten sogleich gestellt. Sie trat in die Kälte auf die alte Holzveranda hinaus und sah ihre Mutter zum Anleger hinunterlaufen, ihr weißes Nachthemd leuchtete im Mondlicht. Sie
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