Gedenke deiner Taten
noch berührt. Auf den Fensterbrettern lag eine hauchdünne Schneeschicht. Ihre Mutter hatte Heart Island im Winter besucht. In welchem Winter? Birdie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter jemals allein verreist wäre.
Unter diesem Foto stand kein Kommentar. Es passte nicht zu den heiteren Sommerbildern. Es war fremd und verstörend. Birdie hörte die ersten Regentropfen fallen. Der Regen klopfte aufs Blechdach. Als Birdie das Foto von der Albumseite löste, knisterte es. Sie drehte es um. In ihrer zarten, geschwungenen Handschrift hatte ihre Mutter auf der Rückseite vermerkt: »Mein Schatz, es tut mir so leid. Es war kein Traum . «
VIERZEHN
S ean plapperte schon den ganzen Vormittag. Das tat er nur, wenn er nervös war oder ein schlechtes Gewissen hatte. Heute traf beides zu. Er war nervös, weil die Hausbesichtigung bevorstand, und er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er die Frauen allein fahren lassen musste. Brendan schmollte und humpelte mal mehr, mal weniger, je nachdem, wer gerade hinschaute.
Habt ihr das Navigationsgerät eingepackt? Hast du die richtige Adresse eingetippt? Habt ihr genug zu essen dabei? Ihr wollt tatsächlich Lulu mitnehmen? Lass dich von deiner Mutter nicht ärgern. Wir kommen bald nach. Heute Abend, spätestens morgen früh sind wir da . Er schwafelte wie ein Verrückter. Sobald er versuchte, kurz den Mund zu halten, kam ihm ein neuer Gedanke. Sorry, ich rede zu viel.
Kate war schweigsam, das war ihre Art, mit Stress und Schuldgefühlen umzugehen. Sean wusste, dass sie mit gemischten Gefühlen auf die Insel fuhr, außerdem ließ sie Brendan nur ungern zurück. Weil sie schwieg, plapperte er umso mehr, um die Stille zu übertönen. Ist schon okay, Schatz. Wir kommen zurecht, mach dir um uns keine Sorgen.
Chelsea und Brendan stritten sich um das iPad, Chelsea wollte sich auf der Fahrt einen Film ansehen, Brendan darauf spielen.
»Du hast ein iPhone!«, schrie Brendan plötzlich, »du brauchst das iPad gar nicht! Immer bekommst du alles!«
»Es reicht«, sagte Kate gereizt. Ihre Stimme klang schneidender als sonst, und alle drehten sich überrascht zu ihr um. »Ihr beide werdet euch jetzt friedlich einigen, wer das Ding bekommt. Ansonsten werde ich es an Kinder verschenken, die nichts haben!«
Brendan und Chelsea standen mit offenem Mund da, während Kate unter Getöse die letzten Teller im Geschirrspüler verstaute. Es war noch nicht einmal sechs Uhr, und die ersten Sonnenstrahlen zeichneten ein gesprenkeltes Muster auf den Küchenfußboden. Sean stellte sich hinter Kate und legte ihr seine Hände auf die schmalen, hochgezogenen Schultern.
»Sorry«, sagte sie nach einer Weile. Sie atmete durch und entspannte sich unter Seans Berührung. »Ich wollte nicht laut werden. Aber ich meine es ernst!«
»Okay«, sagte Chelsea und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken, ohne ihre Mutter aus den Augen zu lassen. Immer war sie diejenige, die um des lieben Friedens willen nachgab. Sean hielt das für eine Spätfolge der Streitereien zwischen Sebastian und Kate. Viele Kinder aus zerrütteten Elternhäusern legten ein solches Verhalten an den Tag. Brendan hingegen hatte nie vermitteln müssen, er hatte nie unter dem Druck gestanden, es zwei zerstrittenen Erwachsenen recht zu machen. »Du kannst es haben«, sagte Chelsea.
Brendan war ein ebenso schlechter Gewinner wie Verlierer. Er schnappte sich das iPad und humpelte so schnell wie möglich aus der Küche. Chelsea warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu und folgte ihm hinaus.
»Alle stehen unter Stress«, sagte Kate, als sie allein waren. Sie rieb sich die Schläfen.
»Das wird sich geben«, sagte Sean. »Morgen um diese Zeit sind wir alle zusammen auf der Insel und können entspannen.«
»Ja, genau«, sagte Kate, »dort ist es ja immer so entspannend!«
»Warum wartest du nicht einfach bis morgen? Dann können wir alle zusammen fahren.«
Sean wusste, dass es dazu nicht kam. Schon zog Kate vor Sorge die Stirn kraus. Du liebe Güte, niemals würde sie ihre Eltern enttäuschen oder warten lassen. Denn dann wären sie alle Birdies berüchtigten Launen ausgesetzt.
»Nein«, sagte sie. »Das Auto ist schon gepackt. Ich lasse Brendan nur ungern hier, aber es ist besser für ihn, sich noch einen Tag auszuruhen.«
»Okay«, sagte Sean. »Wir schaffen das schon.«
Kate schmiegte sich an ihn.
»Wirklich?«
»Natürlich.« Er zog sie an sich.
In diesem Haus waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Damals hatte es
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