Gedenke deiner Taten
Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich einmal allein hinfahre.«
Es stimmte. Sie hatte ihren Eltern viel zu erzählen.
Sean gab ihr einen letzten Kuss und stellte sich zu Brendan an die Haustür. Er legte dem Jungen einen Arm um die Schulter und beobachtete, wie der Geländewagen hupend um die Ecke bog und drei Hände sich aus dem geöffneten Schiebedach reckten. Dann waren sie weg.
»Das ist doof«, sagte Brendan. Er ließ seinen Lockenkopf hängen und betrachtete wütend seinen geschwollenen Knöchel. Sean wollte zustimmen, riss sich aber zusammen.
FÜNFZEHN
E mily erwachte in der milchigen Dämmerung und brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, wo sie war. Ihr Leben war wie ein leeres Blatt. Vielleicht lag sie zu Hause in ihrem Bett. Vielleicht erwartete sie ein normaler Tag. Gleich würde sie aufstehen, duschen, frühstücken, sich für die Arbeit fertig machen. Aber dann dämmerte ihr langsam, was passiert war, und die schreckliche Last ihrer Tat drückte ihr aufs Herz. O Gott, dachte sie wieder, o nein .
Sie lag allein in einem schäbigen Motelzimmer. Wo waren sie? Sie waren nach Norden gefahren. Dean hatte Emily eine Tablette gegeben, die sie dankbar genommen hatte, ohne zu wissen, was sie da nahm. Noch vor wenigen Tagen wäre das undenkbar gewesen. Aber nun war ihr egal, was mit ihr passierte. Der Schlaf hatte sich über sie gelegt wie eine schwarze Decke.
Sie konnte sich undeutlich erinnern, dass Dean sie aus dem Auto gehoben hatte. Sie hatte sich kaum bewegen können. Und auch jetzt noch fühlten sich ihre Glieder irgendwie bleiern an, und das Denken fiel ihr schwer. Hatte Dean sie verlassen? Emily wagte kaum, es zu hoffen. Was würde sie tun? Nach Hause fahren, sich stellen und die Strafe akzeptieren. Sie würde versuchen, so weit wie möglich Wiedergutmachung zu leisten. Sie versuchte, nicht an das Restaurant zu denken, an das Blut auf dem Fußboden, aber die Bilder hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Konnte sie jemals wieder an etwas anderes denken?
Emily schlang sich die Arme um die Taille, zog die Knie an. »Es tut mir leid«, flüsterte sie, »es tut mir so leid!«
Im selben Moment öffnete sich die Tür. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf Brads große, gebeugte Gestalt, bevor sie die Augen wieder zukniff. Sie stellte sich schlafend. Ihr Herz begann zu rasen, als die Tür leise zugedrückt wurde. Wo war Dean?
Sie hielt die Augen immer noch geschlossen, konnte aber Brads schweres Keuchen hören. Er stand am Fußende des Betts. Sein lauter Atem vermischte sich mit dem fernen Rauschen von Autoverkehr. Es klang wie das Meer, das Emily zum letzten Mal als Teenager gesehen hatte. Irgendwo lief ein Fernseher, eine Tür wurde zugeschlagen. Emilys ganzer Körper kribbelte. Sie fragte sich, ob Brad sah, wie sie zitterte.
»Ich weiß, dass du wach bist«, sagte er plötzlich.
Sie kniff die Augen zu und versuchte, sich nicht zu bewegen.
»Du musst aufstehen. Wir können hier nicht bleiben.«
Er klang anders, irgendwie sanfter. Emily schlug die Augen auf. Brad sah gepflegter aus; offensichtlich hatte er geduscht. Sein Blick jedoch war immer noch leer und verstörte sie. Er trug andere Kleidung. Emily erkannte ein Hemd aus Deans Schrank wieder. Ihr fiel wieder ein, dass sie am Vorabend zu Hause vorbeigefahren waren. Sie hatte auf dem Bett gelegen und geweint, während Dean eilig ein paar Sachen in seine Reisetasche gestopft hatte. Em, sei still. Bitte, sei still.
»Wo ist Dean?«, fragte sie mit tonloser Stimme. Sie wollte sich auf keinen Fall ihre Angst anmerken lassen.
»Essen holen. Und tanken.« Brad lehnte sich an die Wand, als würde ihn nichts tangieren. »Wir dürfen uns nicht mehr zusammen blicken lassen. Die Bullen wissen, dass wir zu dritt sind.«
Die Polizei. Sie waren auf der Flucht vor der Polizei. Diese Situation entsprach so wenig Emilys Vorstellung von einem gelungenen Leben, dass sie sich irreal anfühlte.
»Die wissen nicht, wer wir sind?«, fragte sie.
»Noch nicht.« Brad fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und warf ihr einen rätselhaften Blick zu.
»Sind sie tot?« Sie brachte die Worte kaum über die Lippen. Sie fühlte sich wie im freien Fall und spürte nichts als eine riesige, erschreckende Leere.
»Der Junge ist tot«, sagte Brad gleichgültig. »Die Frau liegt im Koma.«
Emily ließ den Gedanken auf sich einwirken, dass Angelo ihretwegen nicht mehr lebte. Sie dachte an seine Halskette mit dem goldenen Kreuz, an sein schüchternes Lächeln. Und Carol
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