Gedenke deiner Taten
gewesen wäre, hätte sie laut gelacht.
SECHZEHN
W ann immer wir den Yachthafen erreichten, wurde ich ganz aufgeregt. Ich wusste, was mich erwartete: wochenlang Sonnenschein, ausschlafen, erfrischende Bäder im kühlen See, Picknicks, Kartenspiele. Wir blieben immer bis in die Nacht auf, gingen zelten, erzählten uns im Schein der Taschenlampe Gruselgeschichten. Die Schule mit ihren Anforderungen und Verboten war endlos weit weg. Wir rannten vom Auto zum Boot. Mutter rief uns zurück; wir sollten beim Entladen des Gepäcks helfen und auf den schwankenden Stegen vorsichtig sein. Einmal fiel Gene ins Hafenbecken und war den ganzen Sommer lang erkältet. Zumindest in meiner Erinnerung. Gene behauptet bis heute, Birdie habe ihm ein Bein gestellt. Was sie natürlich abstreitet. Diese kindischen Zankereien liegen nun so weit zurück; trotzdem weiß ich immer noch nicht, wem von beiden ich glauben soll.
Und dann zwängten wir uns ins Boot. Daddy saß am Ruder, Mutter hinter ihm legte ihm eine Hand auf die Schulter. Wir Kinder saßen mit angelegten Schwimmwesten im Bug. Wie aufgeregt Mutter wurde, sobald die Insel in Sichtweite kam! Ihre Müdigkeit war wie verflogen, und ein Lächeln eroberte ihr Gesicht, wo es für die nächsten Wochen blieb. Auch wenn sie zu Hause glücklich schien, war sie der Meinung, mit Haut und Haaren nach Heart Island zu gehören. Für Mutter war jeder Urlaub wie eine Rückkehr in die lang ersehnte Heimat. New York City laugte sie aus; auf Heart Island tankte sie neue Kraft. Das belebte uns alle. Wir alle waren dort andere Menschen.
Kate hatte so viel Zeit mit der Lektüre von Tante Carolines Tagebuch verbracht, dass sie ganze Passagen auswendig kannte. Obwohl sie Carolines Gefühle nicht teilte, hatte sie ihre Stimme im Ohr, als sie mit Chelsea und Lulu den Parkplatz des Yachthafens erreichte.
»Das ist ja wirklich das Ende der Welt«, staunte Lulu, als sie aus dem Auto kletterten. Nervös starrte sie auf die Wasseroberfläche.
»Hab ich doch gesagt«, antwortete Chelsea zufrieden und reckte beide Arme. »Weit und breit kein Einkaufszentrum.«
»Mein Handy hat keinen Empfang«, sagte Lulu und hielt das Gerät in die Höhe. Chelseas Grinsen wurde immer breiter.
»Hier gibt es nicht überall Empfang«, erklärte Kate. »Angeblich ist er auf der Insel ganz gut.«
Kate spürte immer eine leichte Nervosität, wenn sie ihre Mutter besuchte. Würde Birdie ihr Aussehen, ihr Gewicht kommentieren? Die grauen Strähnen in Kates Haar oder dass es »zu lang« war? Langes Haar hat dir noch nie gestanden, Kate . Auf Kinderfotos trug Kate die Haare immer kurz, sie sah geradezu knabenhaft aus. Sie erinnerte sich an die erbitterten Auseinandersetzungen mit Birdie, die ihre Tochter zwang, sich die Haare abschneiden oder durch eine Dauerwelle verunstalten zu lassen. Dabei wollte Kate unbedingt langes Haar haben. Sobald sie Birdies Einfluss entkommen war, hatte sie es wachsen lassen. »Oh Katie«, hatte Tante Caroline geseufzt, »mit langen Haaren siehst du deiner Großmutter Lana ähnlich. Sie hatte wunderschönes Haar.« In Carolines Nähe hatte Kate sich immer geborgen gefühlt, so wie manche Menschen in Gegenwart ihrer Mutter.
»Mom«, sagte Chelsea. Kate merkte, dass sie vor dem geschlossenen Kofferraum stand; die Mädchen neben ihr warteten ungeduldig auf das Gepäck. Kate atmete tief durch. Die Luft war frisch und feucht. Es roch nach Grün. Am Yachthafen wuchsen hohe, alte Bäume – Pinien, Platanen, Ahorn –, dahinter erstreckten sich die Ausläufer der Adirondacks. In der schweren Stille klangen die im Wind schaukelnden Taue, die plätschernden Wellen, die herankommenden Boote, der knirschende Kies unter ihren Sohlen umso lauter. Kate öffnete den Kofferraum.
Während Chelsea und Lulu ihr Gepäck ausluden, entdeckte Kate das Boot. Birdie saß am Ruder und war wie immer dem Anlass entsprechend gekleidet: hellrote Allwetterjacke, weiße Bermudas, dunkelblaue Segelschuhe. Ihr gefärbtes aschblondes Haar war zu einem praktischen, eleganten Pixie geschnitten. Ihr immer noch hübsches Gesicht hatte tiefe Falten. Sie wollte sich nicht aus Eitelkeit unters Messer legen; wenigstens in diesem Punkt waren sie und Kate einer Meinung.
Birdie sah wie immer gut aus. Sie war unglaublich schlank und unübersehbar wohlhabend. Sie lief über den Anleger auf die Sommergäste zu, die Hand zum Gruß erhoben und ein verkniffenes Lächeln um den Mund, das Kate nur zu gut kannte. Sicher war Birdie wenig begeistert, Lulu
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