Gedenke deiner Taten
Heart Island anders aus als sonst. Schon oft hatte sie sich auf diesem Weg genähert, und jedes Mal hatten widersprüchliche Emotionen in ihr gerungen. Heute saß sie zum ersten Mal am Ruder.
Am Anleger luden Birdie und Kate die Koffer aus. Die Mädchen sprangen kreischend auf den Felsen herum. Eigentlich sollten sie mithelfen, aber Kate genoss es, die Mädchen so unbeschwert zu sehen. Sie verbrachten zu viel Zeit ihres jungen Lebens vor Bildschirmen oder im Auto, das sie von einem Termin zum nächsten brachte. Hier draußen waren sie frei. Selbst Kate hatte auf der Insel ein einzigartiges Gefühl von Freiheit. Am Yachthafen hatte sie Sean eine SMS geschickt: »Der Adler ist gelandet . «
»Wehr dich, wenn sie auf dir rumhackt«, hatte Sean geantwortet. »Genieße das Schöne, ignoriere den Rest.«
Wie immer war der Rat ihres Mannes weise und simpel. Warum fiel ihr die Umsetzung so schwer?
»Warum ist Dad nicht hier?«, fragte Kate.
Anstatt zu antworten, starrte Birdie zum Haus hinauf.
»Mom?«
Spätestens seit Kates Auszug bestand Birdie darauf, »Mutter« genannt zu werden. Aber offenbar brachte Kate das Wort nur über die Lippen, wenn sie sich über Birdie ärgerte.
»Wer weiß schon, was dein Vater im Schilde führt?«, sagte sie und klang ungewohnt sanft. War sie traurig? Kate betrachtete ihre Mutter genauer. War sie dünner geworden? Zerbrechlicher? Birdies Bewegungen wirkten seltsam steif. Kate schrieb es Birdies Ischias zu, war aber klug genug, nicht nachzufragen. Über ihre körperlichen Gebrechen sprach Birdie nur ungern.
»Was ist denn?«, fragte Kate. Immer noch starrte ihre Mutter zum Haus hinauf.
»Nichts«, sagte Birdie und schenkte Kate ein strahlendes, aufgesetztes Lächeln. »Ich habe schlecht geschlafen. Das Gewitter war furchtbar.«
Auf dem Weg zum Yachthafen hatte Kate die heruntergefallenen Äste gesehen und sogar einen umgestürzten Baum. Die Insel sah aus wie so oft nach einem heftigen Sturm, irgendwie saubergefegt. Als Kind hatte Kate Gewitter als sehr bedrohlich empfunden, das Donnergrollen und die zuckenden Blitze hatten sie zu Tode erschreckt. Fast immer war der Strom ausgefallen und die Telefonverbindung unterbrochen. Wie sollten sie, falls es nach einem Blitzeinschlag brannte, bei solch stürmischem Seegang von der Insel entkommen?
»Ich lenke das Boot durch jeden Sturm«, hatte Birdie sie beruhigt. »Bis jetzt habe ich es immer geschafft.«
»Ja«, pflichtete Joe ihr bei, »die Naturkatastrophe, die eure Mutter umhaut, muss erst noch erfunden werden.«
»Hier brauchst du keine Angst zu haben«, fügte Birdie hinzu, »hier bist du sicher.«
Kate hatte sich gefragt, was ihre Mutter damit meinte. Sie waren von Wasser umgeben, abgeschnitten vom Rest der Welt und den Launen des Wetters hilflos ausgeliefert. Während Kates Kindheit hatten Brände nach einem Blitzeinschlag zwei Nachbarinseln verwüstet. Trotzdem schenkte sie den Worten ihrer Mutter Glauben.
»Das mit dem Boot hast du gut gemacht, Katherine«, sagte Birdie, ohne Kate in die Augen zu schauen, als ob es sie schmerze, der Tochter ein Kompliment zu machen.
»Chelsea und ich haben den Bootsführerschein gemacht«, sagte Kate.
»Wurde auch Zeit«, meinte Birdie.
Kate verdrehte die Augen. Zusammen trugen sie die Koffer zum Haus hinauf. Kate schnappte sich die schwersten Gepäckstücke und bestand darauf, beim zweiten Mal allein zu gehen. Birdie wehrte sich nicht. Sobald sie sich unbeobachtet glaubte, legte sie sich eine Hand an den Rücken und zuckte vor Schmerz zusammen. Warum, fragte sich Kate, muss sie alles für sich behalten? Warum musste sie selbst ihrer eigenen Tochter gegenüber die Starke mimen? Kate wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders.
»Brauchst du Hilfe, Mom?« Auf dem Weg zum Anleger holte Chelsea sie ein.
»Ja«, rief Lulu, »den Rest übernehmen wir!«
Kates erster Gedanke war, das Angebot abzulehnen. Nein, geht spielen . Aber dann fiel ihr ein, wie es sich als Kind angefühlt hatte, Hilfe anzubieten und abgewiesen zu werden. Bei Birdie hatte immer ein unausgesprochener Vorwurf mitgeklungen: Du wirst es ohnehin nicht richtig machen, da mache ich es lieber selbst. Alles allein schaffen zu wollen und keine Hilfe annehmen zu können war ein Zeichen von Kontrollzwang.
»Ja, Birdie, spiel dich als Märtyrerin auf«, hatte Kates Vater immer gesagt. »Heldenhaft.« Wo war er? Aber er hätte ohnehin gelesen oder die Beine vor dem Fernseher hochgelegt. Kate konnte sich nicht erinnern,
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