Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
Vom Netzwerk:
Erscheinung. Sie hatte Katzenaugen, einen großen, breiten Mund und hohe Wangenknochen. Früher hatte Emily verträumt vor der Mappe ihrer Mutter gesessen und sich gefragt, was aus der schönen, selbstbewussten, eleganten, mondänen Frau auf den Bildern geworden war.
    Martha hatte mehr als nur ihre Schönheit eingebüßt. Es war, als strahle sie nicht mehr von innen, als hätten die Enttäuschungen sie ausgesaugt. Die Frau, die Emily kannte, hatte mit dem Mädchen von früher nichts mehr gemein. Ihre Gesichtshaut war schlaff und fahl, und tiefe Falten zogen sich um ihren Mund. Von Martha, dem atemberaubenden Model, war nichts mehr übrig. Von Martha, der Geliebten von Joe Burke, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatte. Sie war ein Wunschbild, so wie Holly Golightly. Sie hatte sich ihr Dasein erträumt, und jetzt lebte sie nur noch in der Erinnerung.
    Schilddrüsenprobleme hatten Marthas Figur den Rest gegeben. Durch das Rauchen waren ihre Wangen erschlafft, und tiefe Furchen hatten sich in ihre Haut gegraben. Wenn sie trank, bekam sie Wutausbrüche und wurde depressiv. Emily liebte sie trotzdem. Für eine Tochter war all das bedeutungslos. Wäre Martha nur weniger gemein zu ihr gewesen … immer noch hallten ihre giftigen Kommentare in Emilys Ohren wider. Du bist zu nichts nutze , wann immer Emily ein Fehler unterlaufen war . Du leidest unter Allmachtsfantasien , wenn Emily davon träumte, Ballerina, Wissenschaftlerin oder Filmstar zu werden. An manchen Tagen blieb ihre Mutter im abgedunkelten Schlafzimmer liegen und kommandierte Emily herum.
    Als kleines Mädchen hatte Emily sich immer gewünscht, die Frau auf den Fotos kennenzulernen. Sie war froh und glücklich, sanftmütig und unbeschwert. Hatte ein Champagnerglas in der Hand und saß auf einer Picknickdecke, bekam einen Rosenstrauß, saß auf dem Schoß des Weihnachtsmannes, wobei ihr koketter Blick verriet, dass es sehr amüsant sein konnte, manchmal ungezogen zu sein. Diese Frau hätte Emily jetzt am liebsten angerufen.
    »Mama«, wollte sie sagen, »ich habe etwas Schreckliches getan und stecke in der Klemme.« Und ihre Mutter hätte geantwortet: »Komm nach Hause, Schätzchen. Ich werde mich um alles kümmern.«
    Aber nein, so war das Leben nicht. Ihre Mutter würde sagen: »Du Dummkopf. Was hast du getan? Ich habe dir doch gesagt, er wird dich kaputtmachen.« Am schlimmsten war, dass sie Recht hatte.
    Emily und Dean liefen mit jeweils einer Reisetasche bepackt zum Bootssteg hinunter. Emily trug die schweren Vorräte, Dean die Tasche mit dem Geld und der Pistole. Der Anleger schwankte unter ihren Füßen, und das Wasser, schwarz wie Teer, schlug an die Planken. Das Wetter war schlecht. Windböen peitschten auf sie ein, und der Regen fühlte sich auf der Haut wie Nadelstiche an. Vielleicht war heute Abend nicht der richtige Zeitpunkt, um auf die Insel zurückzukehren. Der Unterschied zu damals hätte krasser nicht sein können. Womöglich war es ein Zeichen. Sie rief Dean zu, dass sie sich vielleicht besser für diese Nacht eine andere Unterkunft suchten. Er hörte sie nicht, oder er hatte keine Lust zu antworten. Seit heute Morgen war er mürrisch und schweigsam.
    Es regnete noch stärker, als sie endlich ein Boot mit Zündschlüssel fanden. Es hieß Serendipity, was so viel bedeutete wie mehr Glück als Verstand. Emily gefiel die Vorstellung, dass unerwartet das Gute in das Leben eines Menschen trat und ihn unverhofft glücklich machte.
    »Genau solche Leute nehmen den Schlüssel nicht mit«, sagte Dean, als er den Namen las. Er klang höhnisch, so als wären alle, die an das Gute im Menschen glaubten, dumme Idioten, die man guten Gewissens bestehlen durfte. Und tatsächlich – nachdem Dean ins Boot geklettert war, fand er den Schlüssel unter der Ruderbank.
    Auch daran konnte Emily sich erinnern. Die Leute hier ließen Zündschlüssel im Auto und auf dem Boot stecken und schlossen ihre Haustüren nicht ab. Der Ort war abgeschieden, und jeder kannte jeden, zumindest hatte ihr Vater ihr das erzählt. Wie wunderbar! Und gleichzeitig hatte sie an die Eisenstäbe vor den Fenstern zu Hause gedacht; sie und ihre Mutter lebten in einem heruntergekommenen Teil der Stadt. Wie stellte man es an, an einem Ort zu leben, wo man sich nicht ein- und den Rest der Welt nicht ausschließen musste?
    Als sie die Taschen aufs Boot luden, hörten sie jemanden rufen. Der tanzende Lichtkegel einer Taschenlampe kam näher. Schnell nahm Dean die Waffe heraus und steckte sie in

Weitere Kostenlose Bücher