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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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sie. »Gestern hat mich ein leichtes Unwohlsein überkommen, als ich ihn sah. Vielleicht schon früher. Und dann noch mein Ischias …«
    »Dann war da tatsächlich jemand?«
    »Ja«, sagte Birdie. »Nein.« Sie runzelte die Stirn, seufzte entnervt. »Ich weiß es nicht. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich gesehen habe.«
    »Erzähl es mir.«
    Sie wollte Birdies zarte, blasse Hände nehmen, die auf der Bettdecke lagen. Aber es ging nicht. Sie konnte ihre Mutter nicht einfach so berühren. Körperliche Nähe existierte zwischen ihnen nicht. Sie konnte ihre Mutter höchstens flüchtig auf die Wange küssen, ihre knochigen Schultern tätscheln. Ihre eigenen Kinder belagerten sie bei jeder Gelegenheit – bis heute, während die meisten von Kates Freundinnen klagten, dass Kinder im Teenageralter es kaum noch in einem Zimmer mit den Eltern aushielten. Kate küsste ihre Kinder immer noch auf den Mund und umarmte sie. Birdie war ein Eisblock; hielt man sich zu lange an ihr fest, tat es weh.
    Nichtsdestotrotz erzählte ihre Mutter Kate von dem Mann am Strand, der später im Haus verschwunden war. Es klang beängstigend.
    Was allerdings nicht auf Birdie zutraf. Selbst wenn ihre Augen nachließen und sich ein Fremder auf die Insel gewagt hatte – die zähe Birdie Burke ließ sich so schnell nicht ins Bockshorn jagen. Es musste mehr dahinterstecken.
    »Haben sie den Braten anbrennen lassen?«, fragte Birdie.
    »Nein«, antwortete Kate, obwohl sie es nicht genau wusste. »Das Essen ist gleich fertig. Danach geht es dir hoffentlich besser.«
    Birdie warf Kate einen seltsamen Blick zu. Kate schwieg und hoffte, ihre Mutter würde noch etwas sagen. Birdie lächelte müde und drehte sich wieder zur Zimmerdecke.
    Auf einmal meinte Kate, ein Geräusch zu hören, so wie zu Hause, wenn die Stimmen ihrer Kinder durch die Wände drangen. Sie horchte vergeblich. Sie trat ans Fenster und schaute zum Anleger hinunter. Draußen war alles schwarz. Eine dicke Wolkendecke verbarg die Sterne.
    »Ich fühle Regen aufziehen«, sagte Birdie.
    Wie auf Kommando klopften die ersten Tropfen an die Fensterscheibe. Hoffentlich blieb es bei einem Schauer. Bloß kein Gewitter, jetzt, wo Sean und Brendan nicht da waren. Bei Sturm fühlte Kate sich auf der Insel wie eine Gefangene.
    »Wenn es dir besser geht«, sagte sie, »schaue ich mal nach dem Abendessen.«
    »Glaubst du, dass jemand hier war?«, fragte Birdie. Sie klang beunruhigt. »Oder meinst du, ich hätte den Verstand verloren?«
    Alles im Zimmer war aus Holz – die Wandverkleidungen, das Bettgestell. Das rustikale Ambiente wirkte gemütlich. Nicht, dass Birdie es geschmackvoll fand, aber Joe hatte sich durchgesetzt. Er hielt sich für einen Naturburschen, obwohl er ohne die Großstadt nicht leben konnte. Er bezeichnete sich als einen guten Koch, dabei aßen er und Birdie meist außer Haus oder beschäftigten eine Köchin. Er betrachtete sich als Opernkenner, schlief aber meistens noch vor der Pause ein. Für die Insel hatte er sich eine riesige Blockhütte vorgestellt, die perfekt seinem Selbstbild entsprach. Letztendlich schien er nie schnell genug wieder von der Insel wegzukommen. In dem Schlafzimmer mit den wuchtigen Möbeln wirkte Birdie plötzlich klein und verletzlich.
    »Nein, auf keinen Fall hast du den Verstand verloren«, sagte Kate. »Aber es kann ja trotzdem jemand gewesen sein.«
    »Ach ja, ich vergaß«, schnaubte Birdie verächtlich, »du glaubst an Carolines Geistergeschichten.«
    »So meinte ich das nicht«, sagte Kate. Sie wollte geduldig sein und ermahnte sich, dass es Birdie nicht gut ging. »Ich wollte nur sagen, dass es mehr als nur zwei Möglichkeiten gibt.«
    »John Cross hat mich für irre gehalten«, sagte Birdie, »du hättest sehen sollen, wie er mich angesehen hat.«
    »Ich glaube, ich mag den Kerl nicht«, sagte Kate.
    Überrascht zog Birdie die Augenbrauen hoch.
    »Ich auch nicht«, erklärte sie. »Ich kann diese Neureichen nicht ausstehen. Woher hat er sein Geld überhaupt? Sicher nicht als Verleger verdient. Seine Frau muss eine reiche Erbin sein.«
    Kate musste lachen. Was auch immer geschah, Birdie blieb Birdie. Es donnerte. Nein, das waren die Mädchen. Sie polterten die Verandatreppe herauf. Kate verließ das Schlafzimmer, um sie abzufangen.
    »Wie eine Horde Nashörner«, murmelte Birdie, als Kate die Tür hinter sich schloss.
    »Was ist denn los?«, fragte sie. Beide Mädchen waren bleich und atemlos, so als wären sie den ganzen Weg vom Anleger gerannt.

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