Gefährlich nah
Gedanken, die Bilder mit wegzutupfen, die sie das ganze Wochenende über gequält hatten. Bilder von Krankenhäusern, Röntgenaufnahmen, Operationen und Schlimmerem. Weit Schlimmerem. Sie hatte die Angst gespürt, die Leere. Die absolute Unmöglichkeit eines Lebens ohne - stopp! Nicht weiter. Nicht wieder. Es war sinnlos. Das würde nicht geschehen. Hazel wandte sich um, als sie die Tür aufgehen hörte, sah Dee und hinter ihr, auf dem Flur wartend, Joe.
»Alles okay mit dir?«, fragte Dee.
»Ja, alles klar«, sagte Hazel.
»Sicher?«, fragte Joe auf dem Weg zum Klassenzimmer.
»Ja«, sagte Hazel. »Nur müde, das ist alles, und als Toms Name ungefähr zum millionsten Mal fiel, hätte ich einfach nur kotzen können.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Joe, doch er betrachtete sie kritisch, eindringlich, so als wüsste er, dass sie log.
Ein Teil von ihr hätte ihm am liebsten alles erzählt oder einfach irgendjemandem, aber der andere Teil hatte beschlossen, dass es besser wäre, zu warten. Am Mittwochmorgen,
wenn sie die Entwarnung hatten, würde sie es ihren Freunden erklären, sich bei Abbie entschuldigen und alles geraderücken können. Alles würde gut werden. Genau wie Sarah es gesagt hatte.
Es musste einfach. Alles andere war undenkbar.
FÜNF
Am Mittwoch nach der Schule stand Dee am Rand des Schulhofs und wartete auf Scott. Kieran sagte, sie sollte ihn alleine nach Hause gehen lassen, aber sie wollte es nicht riskieren. Die Woche war bisher gut gelaufen. Scott war in der Schule geblieben, und Mrs Mitchell meinte, er würde sich ganz gut einleben. Aber wo zum Teufel steckte er? Fast alle waren schon draußen. Die meisten Busse waren abgefahren. Sie hatte ihn doch nicht etwa verpasst?
»Du hast nicht zufällig Scott irgendwo gesehen?«, rief sie, als sie Abbie die Auffahrt entlangeilen sah.
»Nein, tut mir leid«, rief Abbie zurück. »Muss los. Tom holt mich ab.«
Dee sah Abbie hinterher und hoffte, vielleicht einen Blick auf den geheimnisvollen Tom werfen zu können, aber die beiden hatten sich offenbar ein Stück von der Schule entfernt verabredet. Obwohl Abbie so viel über Tom redete, schien sie doch nicht besonders erpicht darauf, mit ihm persönlich anzugeben. Soweit Dee wusste, hatte keiner ihn je kennengelernt. Nicht einmal Hazel. Hazel! Noch so ein Sorgenkind. Hazel war heute nicht in der Schule gewesen, und keiner schien zu wissen, warum. Und Abbie schien es vollkommen egal zu sein.
»Irgendein Virus, nehme ich an. Das könnte auch erklären, warum sie gestern so mies drauf war und einfach so auf mich losgegangen ist«, hatte Abbie gesagt, bevor sie das Gespräch wieder auf Tom lenkte.
Warum erinnerte jede Erwähnung von Tom, jedes bewundernde und lobende Wort, Dee immer an … Sie schüttelte den Kopf in dem Versuch, den Gedanken abzuwehren, bevor er sich wieder festsetzen konnte. Bestimmt war Tom gar nicht so! Tom war bestimmt ganz durchschnittlich, nett, normal, unauffällig. Aber die Art, wie Abbie unablässig von ihm redete, wie er ihr ganzes Leben bestimmte, das erinnerte sie ganz eindeutig an etwas.
An etwas, das ungefähr drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter begonnen hatte, als ihr Dad anfing, manchmal später von der Arbeit nach Hause zu kommen, entspannt, lächelnd, und als der Name »Lauren« in den Gesprächen immer öfter fiel.
»Tut mir leid«, hatte Dad eines Abends gesagt, als er sie später denn je bei einer Nachbarin abholte. »Ich hab mal wieder mit der Neuen in der Buchhaltung geredet: Lauren. Sie hat am Sonntag Geburtstag. Ich hab gesagt, ich würde sie zum Essen einladen, aber Lauren meinte, sie würde lieber zu uns kommen, um euch alle kennenzulernen. Die muss verrückt sein, was? Also, was meint ihr? Sollen wir ihr einen Kuchen backen?«
Der Kuchen war scheußlich. Es sollte ein Biskuitteig sein, aber sie hatten das falsche Mehl erwischt, und so sah der Kuchen mit seiner buckligen Form, der verschmierten Schokoglasur und den zweiunddreißig Kerzen,
die kreuz und quer darauf steckten, eher aus wie ein deformierter Igel.
»Wirklich seeehr lecker!«, hatte Lauren gesagt und tapfer ein zweites Stück verspeist.
Dabei hatte sie Dee zugezwinkert und sie verschwörerisch auf ihre Seite gezogen, sodass sie sich auch als Erwachsene fühlte. Es war leicht zu sehen, warum Dad sie mochte, warum jeder sie mögen würde. Sie war schlank, hübsch, hatte eine schöne Haut. Dee konnte sich daran erinnern, dass ihr die Haut aufgefallen war bei diesem ersten Treffen. Sehr
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