Gefährlich nah
konnten ihr das Taschengeld streichen, aber selbst das spielte keine Rolle. Nicht solange Tom darauf bestand, für alles zu bezahlen. Sie brauchte auch keine Fahrdienste ihrer Eltern mehr. Eigentlich brauchte sie gar nichts von ihnen. Tom war viel mehr als ihr Freund. Tom war Freiheit.
Dee gähnte und sah Scott hinterher, der zum Schulhof der Grundschule hinüberging. Es ging ihm gar nicht so schlecht heute Morgen, dafür, dass er in der Nacht mal wieder einen seiner Albträume gehabt hatte. Einen von den ganz schlimmen, wo er das ganze Haus mit seinen Schreien aufweckte. Dee war als Erste aufgestanden und hatte ihn vor der Badezimmertür gefunden, wo er, die Augen weit aufgerissen, mit zitternder Hand auf etwas zeigte. Sie hatte ihn nicht angefasst. Sie wussten, dass man ihn nicht berühren durfte, wenn er schlafwandelte. Stattdessen hatte sie mit ihm geredet, ganz ruhig, so lange, bis ihre Stimme in sein Unterbewusstsein drang und die Schreie zu einem leisen Wimmern verstummt waren. Dann hatte Gran übernommen und Scott zurück in sein Zimmer gebracht, wo sie bei ihm sitzen blieb, bis er wieder eingeschlafen war.
Während Dee zusah, wie Scott sich gegen die Wand in der Ecke des Schulhofs drückte, kam sein neuer Freund, Oliver, zu ihm hinübergelaufen. Zu ihrer Erleichterung lächelte Scott. Er wirkte ziemlich entspannt. Wahrscheinlich entspannter als sie selbst. Während sie zur Tür ging, rieb sie sich vorsichtig ihren geschwollenen Finger, an
dem sie sich beim Bowling am Samstag verletzt hatte. Aber der Finger war eigentlich gar nicht das Problem. Das Problem war Sanjay.
Er war auf dem Hinweg zur Bowlingbahn ziemlich schweigsam gewesen. Sie hatte angenommen, er müsste sich aufs Fahren konzentrieren. Als sie dann angekommen waren, hatte sich die Gruppe ganz natürlich in zwei Gruppen aufgespalten. Sanjay hatte auf der anderen Bahn zusammen mit den ernsthaften Bowlingspielern gespielt, während sie mit Joe und einem von Joes verrückten Freunden nur so zum Spaß gespielt hatte. Hazel war auch auf ihrer Bahn gewesen, aber sie war nicht recht bei der Sache. Sie hatte eigentlich gleich nach dem ersten Spiel aufgegeben und hatte den halben Abend am Telefon gehangen und mit ihrer Schwester telefoniert.
Dee hatte sich selbst dabei ertappt, wie sie von Zeit zu Zeit zur anderen Bahn hinüberschaute und Sanjay beobachtete. Sie bewunderte seinen Stil und den Ausdruck tiefster Konzentration auf seinem Gesicht, wenn er die Kugel warf, und dann das strahlende Lächeln, wann immer er einen Treffer landete. Sie konnte nachvollziehen, was ein Mädchen wie Abbie in Sanjay sah. Er war locker der bestaussehende Junge der ganzen Schule. Einer von der Sorte, die es schafften, in allem gut, aber trotzdem cool und beliebt zu sein. Total zum Kotzen, wenn er nicht gleichzeitig so meganett gewesen wäre! Einmal war er rübergekommen und hatte ihren Arm geführt, sodass sie wenigstens einmal ein paar Kegel umwarf. Dann später in der Kaffeebar hatte Sanjay ihren verletzten Finger
untersucht und ihre Hand dabei ziemlich lange festgehalten und ihr versichert, der Finger sei ganz sicher nicht gebrochen.
Er hatte sie nach Hause gefahren und sie als Letzte abgesetzt, obwohl die anderen ihm geraten hatten, es wäre schneller, sie als Erste nach Hause zu bringen. Sie hatten noch im Wagen gesessen und geredet und dabei versucht, Kieran zu ignorieren, der sie damit genervt hatte, dass er sie von seinem Zimmerfenster aus beobachtet und dumme Grimassen geschnitten hatte, bis es ihm zu langweilig wurde und er verschwand. Sanjay hatte eine ganze Menge über Abbie geredet. Nichts Tiefschürfendes oder allzu Persönliches. Es war nur so, dass jedes einzelne Gesprächsthema irgendwie Abbies Namen mit sich zu bringen schien.
Dee war sich so sicher gewesen, dass Sanjay noch immer ganz auf Abbie fixiert war, dass sie völlig unvorbereitet für das war, was dann geschah, als sie gerade aussteigen wollte. Sanjay hatte sich zu ihr hinübergebeugt und sie geküsst! Kein kleines Küsschen auf die Wange, sondern ein echter, richtiger Kuss. Und sie hatte ihn erwidert! Sie konnte gar nicht anders. Es hatte sich einfach so richtig angefühlt, natürlich, irgendwie besser als die Male, als sie andere Jungs geküsst hatte.
»Bis dann«, hatte Sanjay gesagt, nachdem der lange Kuss vorüber war.
Nur das. Er hatte sie nicht gefragt, ob sie wieder was zusammen machen wollten, oder versprochen, sie anzurufen. Er hatte nicht einmal nach ihrer
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