Gefährliche Freiheit
Officer.
Der Chauffeur zuckte die Achseln, beugte sich vor und legte den ersten Gang ein. Mit einem lauten, wütenden Aufheulen schoss der Wagen vorwärts. Als er davonbrauste, verebbte der Motorenlärm in der Ferne allmählich zu einem schwachen Brummen.
Und wurde zu Nichts. Stille. Die Bevölkerungspolizei war fort.
Luke stand dicht gedrängt in einer Reihe von Menschen – Männern, Frauen, Jungen und Mädchen –, Menschen, die er gar nicht kannte und die ihm dennoch gerade das Leben gerettet hatten. Niemand sagte etwas, alle hielten sich weiter untergehakt; es schien, als könnten auch sie das, was gerade geschehen war, kaum fassen.
»Danke«, murmelte Luke. »Vielen, vielen Dank.« Er schluckte schwer. »Aber warum – warum habt ihr mir geholfen?«
Beschwörend sah er in das Gesicht des bärtigen Mannes, der in die Ferne starrte.
»Weil es richtig war«, sagte dieser schließlich. »Wir haben uns in der Vergangenheit viel zu oft von ihnen einschüchtern und drängen lassen, das Falsche zu tun. Es war Zeit, das zu ändern.«
Die anderen nickten oder murmelten beifällig. Sie ließen die Arme sinken und bildeten kleine Grüppchen; sie flüsterten und durchlebten noch einmal den spannenden Augenblick, als sie die Bevölkerungspolizisten verjagt hatten. Einige der jüngeren Kinder begannen sogar kichernd die von Panik ergriffenen Beamten nachzuahmen.
Auch wenn diese Menschen für Luke Fremde waren, kümmerte ihn ihr Schicksal plötzlich. Er fürchtete, dass sie vielleicht zu naiv waren.
»Was ist, wenn die Bevölkerungspolizei zurückkommt?«, fragte er. »Sie könnten mit Hunderten bewaffneter Männer anrücken. Was ihr getan habt, war gefährlich, sich ihnen offen zu widersetzen. Ihr solltet fortgehen, solange ihr noch könnt, weglaufen und …«
»Wir werden nicht weglaufen«, sagte die Frau an Lukes Seite. »Schau uns doch an. Siehst du nicht, dass wir sowieso sterben werden? Wenn die Bevölkerungspolizei zurückkommt, sterben wir halt ein bisschen früher. Aber dafür mit einem reinen Gewissen.«
Zum ersten Mal bemerkte Luke, wie mager die Menschen waren. Ihre Gesichter waren ausgemergelt und ihre Wangen völlig eingefallen. Die Hand- und Fußgelenke, die aus den lumpigen Kleidern herausragten, bestanden nur noch aus Haut und Knochen.
»Ihr seid am Verhungern«, flüsterte er.
»Wir haben nicht genug zu essen, um den Winter zu überleben«, sagte der Mann mit einem resignierten Achselzucken. »Wir haben die Bevölkerungspolizei um Hilfe gebeten, aber sie meinten, das sei nicht ihr Problem. Wir seien selbst schuld. Danach sind wir übereingekommen, nicht mehr auf sie zu hören. Wir wollen nicht mehr … schwach sein.«
»Ihr habt aufgegeben«, sagte Luke ungläubig.
»Wir haben uns befreit«, erwiderte der Mann.
15. Kapitel
So wenig die Menschen auch zu essen hatten, sie bestanden darauf, es mit Luke zu teilen.
»Das war unsere Unabhängigkeitserklärung«, sagte die Frau. »Wir sollten ein Fest feiern – mit einem Festmahl!«
Das Festmahl bestand aus hartem Brot, das in einer Brühe aufgeweicht wurde, die einst flüchtige Bekanntschaft mit ein oder zwei Kartoffeln gemacht haben mochte. Immerhin konnte Luke das Essen in einem warmen Zimmer genießen – an Feuerholz litten die Menschen keinen Mangel. Sie scharten sich um ihn und nannten ihm ihre Namen. Der Mann, der Luke angesprochen hatte, hieß Eli; die Frau Adriana. Außerdem wurden Luke noch Jasper und Lett, Alica, Simon und Hadley, Sarah und Randall vorgestellt. Luke verlor den Überblick, welcher Name zu welchem Gesicht gehörte, aber die Namen, die sich auftürmten wie Goldmünzen, hortete er wie einen Schatz. Seit er nach Chiutza aufgebrochen war, hatte er von niemandem, dem er begegnet war, den Namen erfahren.
»Und du bist …?«, fragte Eli.
Luke zögerte. Er hatten zwei falsche Namen, die er verwenden konnte. In der Schule war er Lee Grant gewesen; im Hauptquartier der Bevölkerungspolizei hieß er Wendell Smathers. Doch jeder dieser Namen war belastet und barg seine eigenen Gefahren.
»Luke«, sagte er. »Ich bin Luke.«
Er hatte es kaum ausgesprochen, als ihm einfiel, dass er jeden x-beliebigen Namen hätte nehmen können –, schließlich würden diese Leute weder seinen Ausweis noch sonstige Papiere kontrollieren.
Aber wenn die Bevölkerungspolizei zurückkommt …
Diese Menschen würden ihn nicht ausliefern. Die Gelegenheit dazu hatten sie bereits gehabt.
Sie hätten mich gegen Lebensmittel eintauschen
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