Gefährliche Freiheit
können. Warum haben sie daran nicht gedacht? Und was ist, wenn sie es jetzt tun?
Plötzlich wurde es ihm zu warm; zu viele Menschen drängten sich in dem kleinen Raum und stießen ihn mit ihren spitzen Ellbogen, Schultern und Hüften in die Seite. Wenn ich heute Nacht einen Albtraum habe, werde ich von Skeletten träumen, dachte Luke. Mit einem Mal war das Brot zu trocken zum Kauen und er musste husten.
Jemand klopfte ihm auf den Rücken.
»Na, na«, sagt Eli. »Du solltest ein bisschen langsamer essen und es ordentlich genießen, weißt du!«
Er klang so wehmütig, dass Lukes Panik tatsächlich nachließ.
Wahrscheinlich würden sie mich auch jetzt nicht ausliefern, beschloss er. Trotzdem muss ich auf der Hut sein.
»Wie bist du in unserem Dorf gelandet?«, erkundigte sich Eli.
»Abgesehen von der Bevölkerungspolizei haben wir hier seit Ewigkeiten keine Fremden mehr zu Gesicht bekommen.«
Luke überlegte, was er gefahrlos preisgeben konnte.
»Ich bin vor der Bevölkerungspolizei davongelaufen. Ich war auf dem Weg nach Hause. Dann bin ich in dem verlassenen Dorf dort drüben eingeschlafen …« Er wollte zu den Ruinen hinüberdeuten, hatte aber die Orientierung verloren.
Aber Eli nickte.
»Dort drüben«, sagte er und zeigte am Kamin vorbei. »Ja. Erzähl weiter.«
»Als ich aufwachte, hörte ich Stimmen – Bevölkerungspolizei. Ich … ich bekam Angst und rannte weg. Sie haben mich gehört und ich bin immer weiter gerannt. … Es war reiner Zufall, dass ich hierherkam.«
Eli nickt immer noch.
»Ah«, sagte er. »Dann hast du also unsere alte Heimat gesehen.«
»Sie meinen das alte Dorf? Die Ruinen?«, fragte Luke ungläubig.
»Es waren keine Ruinen, als wir noch dort lebten«, erwiderte Eli und schüttelte bedächtig den Kopf, dass sein weißer Bart hin- und herschwang. »Wir hatten schöne Häuser, üppige Gärten. Dann kam die Dürre. Die Regierung teilte uns mit, dass wir umziehen müssten. Wir lägen zu weit ab von den Hauptversorgungslinien, hieß es. Wir passten einfach nicht in ihre Pläne. Waren ihnen im Weg.«
»Wir dachten, sie würden uns vor dem Verhungern retten«, fuhr Adriana fort, »also haben wir natürlich getan, was sie sagten.«
Sie goss noch ein wenig Brühe in Lukes Schüssel und sah zu, wie er sie auslöffelte, als könnte sie vom Zusehen satt werden.
Eli fuhr mit seiner Geschichte fort. »Dann haben sie uns gesagt, dass wir keine Gärten mehr anlegen dürften. Das sei unrentable Landnutzung. Wir dürften auch keine Blumen mehr anpflanzen, hieß es, weil das Verschwendung sei. Im einen Jahr hieß es, wir sollten Sojabohnen statt Mais anbauen, im nächsten Mais statt Sojabohnen. Es gab Vorschriften über Vorschriften. Alles, was wir anbauten, mussten wir auf der Stelle abliefern. Dann teilten sie uns die uns zustehenden Rationen zu – wenn wir unser Soll erfüllt hatten.«
»Aber es war nie genug«, flüsterte Adriana.
Luke dachte an den kahlen, harten Boden, auf den er gefallen war. Und dann an den dunklen, weichen Lehmboden auf der Farm seiner Eltern.
»Vielleicht taugt euer Boden nicht für Mais und Sojabohnen«, vermutete er.
»Das haben wir der Regierung auch gesagt, aber sie haben nicht zugehört«, meinte Eli. »Keiner dort kannte sich mit der Beschaffenheit von Böden aus. Sie haben nur auf die Zahlen in ihren Formularen gezeigt und gebrüllt: ›Ihr seid uns dieses Jahr so und so viele Scheffel schuldig. Verstanden?‹«
Luke dachte daran, dass er sich als Kind die Regierung immer als großen, dicken, herrischen Mann vorgestellt hatte. Dieses Bild erschien ihm jetzt unschuldig und naiv.
»Dann haben sie alle möglichen Leute mitgenommen, damit sie für die Bevölkerungspolizei arbeiten«, fuhr Adriana fort. »Wir haben keinen von ihnen wiedergesehen.«
»James«, sagte Eli. »Aileen. Twila. Sue. Peter. Robin. Jonathan. Detrick. Lester. Sal. …«
Luke brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Eli all jene aufzählte, die das Dorf an die Bevölkerungspolizei verloren hatte. Nein, hör auf! Erzähl es mir nicht!, hätte er am liebsten gerufen. Ihm war, als drängten sich mit jedem Namen weitere Menschen ins Zimmer – Geister, die sich zu den Skeletten hinzugesellten.
Eli beendete die Aufzählung und es wurde still im Raum. Jetzt, wo er etwas im Magen hatte, konnte Luke klarer denken. Er merkte, dass er der Einzige war, der noch aß, der Einzige, der mehr bekommen hatte als ein paar Krumen Brot und einen Schluck Brühe.
Es ist genau so, wie die
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