Gefährliche Freiheit
hoch über ihm, dann begann sie hinter die Bäume zu sinken. Für Luke war dies der einzige Anhaltspunkt dafür, wie lange er schon vor sich hin getrottet war. Er versuchte, sich in Acht zu nehmen und nach allem Ausschau zu halten, was auf Bevölkerungspolizisten oder bewaffnete Rebellen hindeutete oder auch nur auf ganz normale Leute, die ihren Geschäften nachgingen. Es war nichts zu sehen. Bäume, Himmel, unebenes Gelände – oh, Achtung, die Wurzel da drüben. Du willst doch nicht schon wieder hinfallen. Zweimal erspähte Luke gleich hinter den Bäumen den Rand eines Feldes. Einmal wagte er sogar einen kleinen Umweg, weil er hoffte, dort vertrocknete Sojabohnen zu finden. Doch das Feld glich eher einer Wiese, die man Disteln und Unkraut überlassen hatte. Luke konnte die Furchen noch erkennen, durch die früher der Traktor gerollt war. Doch das schien Jahre her zu sein; das Unkraut hatte den Platz des Getreides schon vor langer Zeit eingenommen.
Aber warum?, fragte sich Luke. Warum versucht niemand, hier etwas anzubauen? Die Menschen hungern doch …
Besorgter, als er es sich eingestehen wollte, zog er sich wieder in den Wald zurück.
Als der Sonnenuntergang nahte, quälte ihn etwas noch Dringlicheres: Durst. Seine Kehle war wie ausgetrocknet nach dem stundenlangen Fußmarsch und er war den ganzen Tag über nicht an einem einzigen Bach oder Teich vorbeigekommen. Das einzige Wasser, das er gesehen hatte, waren die zitternden Tautropfen auf dem herabgefallenen Herbstlaub am Morgen gewesen, und zu dieser Zeit war sein Durst noch nicht groß genug gewesen, um sie abzulecken.
Wie lange kann jemand ohne Wasser überleben?, fragte er sich. Länger als einen Tag? Eine Woche? Er war zu durstig, um sich daran zu erinnern.
Als er gerade alle Hoffnung auf Wasser aufgeben wollte, begannen sich die Bäume vor ihm zu lichten. Sobald er das erste Haus sah, ging er mit äußerster Vorsicht weiter. Was ist, wenn es wieder ein Ort wie Chiutza ist?, fragte er sich besorgt. Oder ein Dorf, das gerade von der Bevölkerungspolizei durchsucht wird? Mit brennender Kehle hoffte er auf eine weitere verlassene Ortschaft – eine mit tiefen, immer noch funktionierenden Brunnen.
Als er schließlich den Waldrand erreichte … konnte er immer noch nicht erkennen, wo er sich befand. Die Häuser, die vor ihm lagen, waren zumeist armselige Hütten in schlechtem Zustand, doch auch in Elis Dorf und in Chiutza hatte es viele zerbrochene Fenster und morsche Dächer gegeben. Luke sah blinzelnd in die Strahlen der untergehenden Sonne, die von Dutzenden Fensterscheiben zurückgeworfen wurden. Er sah keine Menschen, aber an der Rückwand eines Hauses entdeckte er einen Wasserhahn, neben dem ein Eimer an einem Pfosten hing.
»Oh, bitte«, flüsterte Luke. Würde er es wagen? Jetzt, wo er eine mögliche Wasserquelle vor sich hatte, fühlte er sich halb wahnsinnig vor Durst. Benommen schlich er vorwärts und gab sich alle Mühe, leise zu sein. Wenn sich Leute im Haus aufhalten sollten, durften sie ihn auf keinen Fall hören.
Er schaffte es über den ganzen Hinterhof. Sein Verstand spielte ihm inzwischen Streiche und hielt ihm vor Augen, wie oft er von seinem Haus zu dem von Jen hinübergeschlichen war. Auch diese Ausflüge waren riskant gewesen; er hatte sein Leben für etwas aufs Spiel gesetzt, das längst nicht so wichtig war wie Wasser. Oder doch? Er hatte sich verzweifelt danach gesehnt, sein Versteck zu verlassen, hinauszukommen. Er hatte die Hoffnung gebraucht, die Jen ihm gegeben, die Vision, die sie ihm hinterlassen hatte. Er griff nach dem Eimer am Pfosten – und warf ihn herab. Wie eine Alarmglocke stieß der Eimer gegen die Hauswand und fiel zu Boden.
Luke erstarrte. Das Getöse, mit dem der Eimer aufschlug, schien von sämtlichen Bäumen des Waldes widerzuhallen.
Aber es kommt niemand. Es ist bestimmt niemand hier.
Luke wagte es, in eines der heil gebliebenen Fenster zu schauen. Mit knapper Not erkannte er ein ungemachtes Bett, das von zerwühlten Laken bedeckt war.
Siehst du?, sagte er sich. Verlassen. Die Leute sind nur noch nicht so lange fort.
Er bückte sich, um den Eimer aufzuheben. Als er sich wieder aufrichtete, hörte er hinter sich jemanden rufen: »He, du! Was machst du da? Warum bist du nicht drinnen und siehst zu wie alle anderen auch? Komm rein!«
Schneller als er davonrennen konnte, legte sich eine Hand um sein Handgelenk.
18. Kapitel
Luke riss sich los, doch die heftige Bewegung löste einen Hustenanfall
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