Gefährliche Freiheit

dem Fenster rufen: ›He, Leute, Aldous Krakenaur ist hier. Will ihm vielleicht jemand einen Besuch abstatten?‹«
    Oscar stand auf und schien zur Tür zu gehen. Luke fragte sich, ob es das war, was er mit Gerichtsverhandlung gemeint hatte, und damit, die Taten der Bevölkerungspolizei nach den Maßstäben schlichter Menschlichkeit beurteilen zu wollen. Vielleicht ließ er die Massen wirklich herein, damit sie entschieden, welches Schicksal Aldous Krakenaur verdient hatte.
    Luke hörte Ketten klirren.
    »Bitte, ich flehe Sie an –«
    Luke konnte nicht sehen, was geschah, aber er vermutete, dass Aldous Krakenaur Oscars Hand ergriffen hatte, um ihn zurückzuhalten. Bei dem Kettengerassel war kaum etwas zu verstehen und Krakenaur schien jetzt zu flüstern. Luke hörte das Wort »verhandeln«. Er hörte »Verhandlungen« und »meine treuen Anhänger« und »treu Ihnen gegenüber«. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte keinen zusammenhängenden Satz, keinen klaren Gedanken verstehen.
    »Nun ja, ich nehme an, das ließe sich einrichten«, sagte Oscar leichthin, als kümmere es ihn nicht besonders. »Mit dem Köder, von dem wir bereits sprachen …«
    »Ja!« Und die Art, wie Krakenaur das sagte, ließ Luke ahnen, dass er dabei an seinen Ketten zerrte und Oscar immer noch die Hände entgegenstreckte. »Sie glauben fest an die Sache! Sie werden es verstehen!«
    »Und werden sie sich auch … loyal verhalten?«, hakte Oscar nach.
    »Oh, ganz bestimmt!«, versicherte ihm Krakenaur. »Und dann geben Sie mir …«
    »Ich gebe Ihnen die Chance, am Leben zu bleiben«, unterbrach ihn Oscar barsch. »Das ist mehr als großzügig von mir, würde ich sagen.«
    »Aber danach …«
    »Sie haben kein Recht, an Danach zu denken. Sie sollten lieber überlegen, wie Sie sich mir noch nützlich erweisen können, damit ich nicht doch noch auf den Gedanken komme, Sie der Meute draußen zum Fraß vorzuwerfen«, sagte Oscar. Er legte eine wohl kalkulierte Pause ein. »Die Tür zu diesem Raum hat kein Schloss – hat Ihnen das jemand gesagt? Das ist eines dieser unangenehmen kleinen Details, die sich einstellen, wenn man ein Gebäude übernimmt, das die Vorbesitzer in schlechtem Zustand zurückgelassen haben. Genau so ergeht es einem auch, wenn man eine Regierung übernimmt, die von der vorhergehenden Führung in schlechtem Zustand zurückgelassen wurde … Vielleicht sollte ich Sie einfach hier sitzen lassen – mit verbundenen Augen und in Handschellen an den Stuhl gefesselt. Vielleicht sollte ich einfach alles dem Zufall überlassen und sehen, ob irgendjemand hier hereinspaziert und Sie zufällig hier sitzen sieht …«
    »Nein!« Die Panik in Krakenaurs Stimme war fast greifbar. »Sie brauchen mich! Ich kann Ihnen verraten, wo Sie die Nahrungsmittelvorräte finden, die wir gelagert haben. Wir haben Unmengen an Nahrungsmitteln!«
    »Das ist schon mal ein guter Anfang«, sinnierte Oscar. »Der Pöbel ist ganz versessen auf Essen. Und solange ich die Leute damit versorge, werden sie auch auf mich versessen sein. Aber ich warne Sie – ich will mehr als nur Nahrungsmittel. Wir werden einfach abwarten müssen, ob Ihre Versprechungen etwas taugen.«
    Wieder hörte Luke Oscars Schritte, die diesmal sehr zügig klangen. Bei der Tür blieb er stehen und schien die Alarmanlage auszuschalten. Sekunden später öffnete er die Tür und sagte: »Sperr ihn wieder auf den Dachboden, Melton. Er hat einen Tag Gnadenfrist verdient. Lass dir von ihm beschreiben, wo die Nahrungsmittel sind, und schicke jemanden los, um es zu überprüfen. Und dann – kommst du zurück und reparierst dieses Schloss!«
    »Jawohl, Sir«, antwortete Melton.
    »Warten Sie!«, flehte Krakenaur erneut. »Sie können doch nicht einfach …«
    »Ich kann tun und lassen, was ich will«, knurrte Oscar. »Und Sie können rein gar nichts dagegen tun!«
    Mit donnernden Schritten verließ Oscar das Zimmer, gefolgt von Melton und Krakenaur mit seinen rasselnden Ketten. Melton machte das Licht aus und zog die Tür fest hinter sich zu, so dass der Raum wieder in Dunkelheit sank.
    Luke lag regungslos da, blinzelte in einem fort und versuchte, in der undurchdringlichen Finsternis Schatten und Umrisse auszumachen. Selbst als er sicher war, dass seine Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, sah er nichts als tiefblaue Schwärze – nicht den kleinsten Lichtschimmer. Er horchte, ob sich die Schritte entfernten, doch das Zimmer war offensichtlich nach alle Richtungen