Gefaehrliche Gefuehle
was ich zu sagen hatte, abmilderte. Doch ohne dass ich überhaupt etwas gesagt hatte, bekam sein Gesicht einen enttäuschten Ausdruck. Er wusste es, bevor ich es ausgesprochen hatte. So gut kannte er mich. Verdammter Mist. Trotzdem. Ich musste jetzt all meinen Mut zusammennehmen und es hinter mich bringen. »Justus. Du bist mein bester Freund. Seit Ewigkeiten. Und ich liebe dich.« Ich schluckte. »Aber ich bin nicht in dich verliebt.«
Er starrte mich noch einen Moment fassungslos an, schaute dann zu Boden und sagte mit rauer Stimme: »Verstehe.«
»Ich wollte, es wäre anders«, schob ich aufgewühlt hinterher. »Wenn ich darauf irgendeinen Einfluss hätte, dann wäre ich es, wirklich. Aber ich bin es nicht. Es tut mir leid.«
»Und warum hast du mich dann geküsst?«, fragte er leise.
»Weil ich es wirklich wollte«, beteuerte ich. »Ich wollte, dass wir beide … du und ich …«
Seine Schultern sackten nach unten. Seine Kiefer mahlten.
»Es tut mir so leid, Justus«, flüsterte ich. Ich musste die Tränen, die sich gerade sammelten, wegblinzeln.
Er drehte sich weg. Schaute aus dem Fenster. Dann fragte er: »Ist es Enzo?«
Der Kloß in meinem Hals war so groß wie ein BigMac. Justus drehte sich zu mir um, sah mir in die Augen und fragte erneut: »Ist es Enzo? Bist du in ihn verliebt?«
»Justus …«, fing ich an, wusste aber nicht weiter. Oh nein, das hatte ich ihm heute nicht auch noch sagen wollen.
Justus schüttelte den Kopf. »Ich hab’s gewusst«, sagte er bitter.
»Ich hab das nicht gewollt«, beteuerte ich noch einmal.
Er seufzte. »Ich weiß, Nats.«
»Es tut mir leid«, wiederholte ich.
»Mir auch, Natascha. Mir auch.«
Ich stand unschlüssig herum.
»Geh jetzt, Natascha«, sagte er.
»Wollen wir ... wollen wir nicht darüber reden?« So wie Justus mich ansah, hatte ich plötzlich Angst, dass er nach heute nie wieder mit mir sprechen würde.
»Nein. Bitte geh einfach.«
»Okay«, sagte ich verzweifelt und musste schlucken. »Ich rufe dich an, ja?«
»Ist gut.«
Ich wandte mich zur Tür.
»Und Nats?«
Ich drehte mich noch mal zu ihm um. Da stand er. In ausgeblichenen Jeans und dem schwarzen Sons-of-Anarchy-Hoodie, das ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, die Hände in den Taschen vergraben. Das vertraute Lächeln war verschwunden. Ich hatte ihn noch nie so traurig gesehen. Er nahm den Karton mit dem Kalender, drückte ihn mir in die Hand und sagte: »Ich wünsch dir viel Glück.«
Ich konnte es kaum glauben. Anstatt wütend zu sein und mich zu beschimpfen oder Enzo zu verfluchen, blieb er auch jetzt noch nett und sagte einfach genau das Richtige. Zu gerne hätte ich ihn umarmt, aber das Recht dazu hatte ich gerade verwirkt.
»Ich dir auch«, brachte ich hervor, dann ging ich hinaus und schloss die Tür. Auf dem Weg die Treppe runter wischte ich mir mit dem Ärmel die Tränen von der Wange, denn seine Mutter kam gerade aus der Küche. Ich wollte nicht, dass sie mir was anmerkte. Ich flitzte zur Tür, winkte nur und rief: »Tschüss, Nicole.«
»Schon wieder weg?«, fragte sie erstaunt. »Das ging aber schnell!«
»Muss noch was erledigen«, sagte ich und ließ hinter mir die Tür ins Schloss fallen und die Kälte, die mich plötzlich umfing, machte mir auf einmal gar nichts aus. Ich ließ den Tränen freien Lauf. Hinter den geschlossenen Lidern sah ich Justus und mich mit neun Jahren, wie wir in unserem Baumhaus eine Bande gegründet und uns ewige Treue geschworen hatten. Justus und Natascha hatten wir mit krakeliger Schrift auf die selbst gemalte Urkunde geschrieben – mit roter Tinte, weil wir uns zwar mit einer Nadel in den Finger gepikst hatten, aber der Tropfen Blut nicht ausgereicht hatte. Den Blutstropfen hatten wir einfach noch unter unsere Unterschrift gedrückt, wie ein Siegel. Kurz darauf hatten wir uns an dem Seil nach unten auf den Rasen geschwungen und waren auf dem Feldweg Richtung Aaler See gerannt, um feindliche Banden ausfindig zu machen, die wir überfallen konnten. Und jetzt weinte ich, weil eine Zeit in meinem Leben vorbei war, die nie wieder kommen würde. Und weil ich auch Justus vielleicht für immer verloren hatte. Ich atmete tief ein und aus. Wischte die Tränen ab und ging langsam zurück zur Straße. Stumm stieg ich ins Auto ein. Enzo sah mich einen Augenblick von der Seite an, ich stellte den Karton auf den Boden zwischen meine Füße. Ich wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, dann hätte ich sofort wieder angefangen zu heulen. Er drückte
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