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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ihrem dicken Mantel da. Ihr roter Mantel war nicht zu übersehen. Ich setzte mich an den Tisch, der vom Eingang am weitesten entfernt war, und bestellte mir eine Tasse Kaffee. Ich schlug eine Zeitung auf, die da herumlag, und während ich so tat, als läse ich, beobachtete ich die Frau. Vor ihr stand eine Tasse Kaffee, aber so lange ich sie auch beobachtete, sie rührte sie nicht an. Einmal holte sie eine Zigarette aus ihrer Handtasche und zündete sie mit einem goldenen Feuerzeug an, aber abgesehen davon, saß sie einfach nur so da und starrte bewegungslos aus dem Fenster.
    Es konnte sein, daß sie sich schlicht ausruhte; oder vielleicht dachte sie konzentriert über ein gewichtiges Problem nach. Ich nippte gelegentlich an meinem Kaffee und las ein dutzendmal denselben Artikel.
    Nach längerer Zeit stand sie abrupt auf und kam direkt auf mich zu. Es geschah so unvermittelt, daß ich das Gefühl hatte, mir bleibe das Herz stehen. Aber sie kam nicht zu mir. Sie ging an meinem Tisch vorbei und weiter zum Telefon. Sie steckte ein paar Münzen in den Schlitz und wählte.
    Das Telefon war nicht weit von meinem Platz entfernt, aber das laute Stimmengewirr und die Weihnachtslieder, die aus den Lautsprechern dröhnten, verhinderten, daß ich auch nur ein Wort mitbekam. Sie redete lange. Ihr unberührter Kaffee wurde kalt. Als sie wieder an mir vorüberkam, konnte ich sie von vorn sehen, aber noch immer war ich nicht völlig sicher, ob ich wirklich Shimamoto vor mir hatte. Sie war stark geschminkt, und die Hälfte ihres Gesichts verschwand hinter dieser Sonnenbrille. Ihre Augenbrauen waren deutlich nachgezeichnet, und sie preßte ihre leuchtend rot konturierten, schmalen Lippen fest zusammen. Ihr Gesicht erinnerte mich wohl an die junge Shimamoto, aber wenn jemand mir gesagt hätte, sie sei es nicht, hätte ich es ihm genauso abgenommen. Schließlich waren wir zwölf gewesen, als wir uns zum letztenmal gesehen hatten, und seither waren über fünfzehn fahre vergangen. Mit Sicherheit konnte ich nur sagen, daß dies eine attraktive, elegant gekleidete junge Frau von Mitte Zwanzig war. Und daß sie ein gelähmtes Bein hatte.
    Der Schweiß perlte an mir herunter. Mein Unterhemd war durchnäßt. Ich zog den Mantel aus und bestellte mir eine weitere Tasse Kaffee. Was bildest du dir eigentlich ein, was du hier tust? fragte ich mich. Ich hatte ein Paar Handschuhe verloren und war nach Shibuya gefahren, um mir neue zu kauften. Aber kaum hatte ich diese Frau gesehen, hatte ich alles vergessen und war ihr wie ein Besessener nachgelaufen. Jeder normale Mensch wäre einfach auf sie zugegangen und hätte gefragt: »Verzeihung, sind Sie nicht Fräulein Shimamoto?« Aber ich nicht. Kein Wort hatte ich gesagt. Ich war ihr gefolgt und hatte schließlich den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab.
    Sobald sie ihr Telefongespräch beendet hatte, kehrte sie sofort wieder an ihren Platz zurück. Wie vorher saß sie mit dem Rücken zu mir und sah hinaus auf die Straße. Die Kellnerin kam an ihren Tisch und fragte, ob sie ihren kalten Kaffee abräumen dürfe. Ich konnte sie zwar nicht hören, aber das ungefähr müssen ihre Worte gewesen sein. Die Frau wandte sich ihr zu und nickte. Und bestellte offenbar eine weitere Tasse Kaffee. Die sie dann jedoch ebensowenig anrührte. Ich verbarg mich weiter hinter meiner Zeitung und beobachtete über deren Rand hinweg die Frau. Immer wieder hob sie die Hand und sah auf ihre silberne Armbanduhr, als warte sie ungeduldig auf jemanden. Das könnte meine letzte Chance sein, sagte ich mir. Wenn dieser Jemand erst einmal da ist, kann ich sie unmöglich ansprechen. Aber ich blieb sitzen wie festgeklebt. Es hat noch Zeit, beschwichtigte ich mich. Es hat noch Zeit, kein Grund zur Eile.
    Während der nächsten fünfzehn, zwanzig Minuten ereignete sich nichts. Sie blickte unverändert auf die Straßenszene draußen vor dem Café. Dann plötzlich stand sie lautlos auf, klemmte die Handtasche unter den Arm und griff nach der Kaufhaustüte. Anscheinend hatte sie es aufgegeben zu warten. Oder vielleicht hatte sie doch auf niemanden gewartet. Ich sah zu, wie sie an der Kasse zahlte und das Café verließ, stand dann rasch auf; zahlte meinerseits und nahm die Verfolgung wieder auf. Im Strom der Passanten entdeckte ich ihren roten Mantel. Ich schob mich durch die Menschenmenge und behielt sie weiterhin im Auge.
    Mit erhobener Hand versuchte sie, ein Taxi anzuhalten. Schließlich blinkte eines und fuhr an den

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