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Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte

Titel: Gefährliche Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ganz begreife. Ich war achtundzwanzig, als es geschah.
    Am letzten Tag des Jahres schlenderte ich durch die belebten Straßen von Shibuya, als ich im Gedränge eine Frau erspähte, die ein Bein genauso nachzog wie einst Shimamoto. Sie trug einen langen roten Mantel und hielt eine Handtasche aus schwarzem Lackleder unter dem Arm. Am linken Handgelenk trug sie eine Silberuhr, mehr ein Armband eigentlich. Ihre gesamte Erscheinung zeugte von Geld. Ich ging auf der anderen Straßenseite, aber als ich diese Frau sah, rannte ich an der nächsten Ampel hinüber. Die Straßen waren so überfüllt, daß ich mich fragte, wo all die Leute herkommen mochten, aber ich brauchte dennoch nicht lange, um die Frau einzuholen. Mit ihrem gelähmten Bein ging sie recht langsam, genau wie einst Shimamoto, und zog dabei den linken Fuß mit einem leichten Auswärtsschwung nach. Ich konnte den Blick nicht von der eleganten Bogenlinie ihrer schönen Beine abwenden - eine Eleganz, wie sie nur durch langjährige Übung entstehen kann.
    Lange folgte ich ihr, immer ein kleines Stück hinter ihr. Inmitten der hastenden Passanten war es nicht leicht, in diesem gemächlichen Tempo mit ihr Schritt zu halten; immer wieder mußte ich den Abstand wiederherstellen, indem ich meinen Schritt verlangsamte oder stehenblieb und in ein Schaufenster starrte oder so tat, als suchte ich etwas in meinen Taschen. Sie trug schwarze Lederhandschuhe und hatte eine rote Kaufhaustüte bei sich. Trotz des trüben Winterhimmels trug sie eine Sonnenbrille. Von hinten sah ich von ihr lediglich ihr schönes, makellos frisiertes Haar, das sich auf Schulterhöhe modisch nach außen rollte, und diesen flauschigwarm aussehenden roten Mantel, der ihren Rücken weich umfloß. Wenn ich mich wirklich hätte vergewissern wollen, ob sie Shimamoto war, hätte ich natürlich nur einen Bogen um sie zu machen und sie mir von vorn anzusehen brauchen. Was aber, wenn sie es tatsächlich war? Was sollte ich zu ihr sagen - und wie mich verhalten? Womöglich erinnerte sie sich ja gar nicht mehr an mich. Ich brauchte noch Zeit, um mich zu sammeln. Ein paarmal atmete ich tief durch.
    Lange ging ich ihr nach, immer darauf bedacht, sie nicht einzuholen. Nicht ein einziges Mal wandte sie sich um oder blieb stehen; sie sah kaum nach links oder rechts. Sie wirkte, als habe sie ein bestimmtes Ziel und sei entschlossen, es so schnell wie möglich zu erreichen. Wie Shimamoto hielt sie sich beim Gehen sehr aufrecht und trug den Kopf hoch erhoben. Wenn man sie nur von der Taille aufwärts betrachtete, wäre man nie auf die Idee gekommen, daß mit ihrem Bein etwas nicht stimmte; sie ging nur langsamer als die meisten Leute. Je länger ich sie betrachtete, desto mehr erinnerte sie mich an Shimamoto. Wenn diese Frau nicht Shimamoto war, dann konnte sie nur ihre Zwillingsschwester sein.
    Die Frau durchquerte den überfüllten Vorplatz des Shibuya-Bahnhofs und ging dann die Anhöhe in Richtung Aoyama hinauf. Die ansteigende Straße verlangsamte ihren Gang noch mehr. Dennoch legte sie insgesamt eine beträchtliche Strecke zurück - so beträchtlich, daß man sich fragte, warum sie nicht längst ein Taxi genommen hatte. Selbst für jemanden mit zwei gesunden Beinen war dies ein anstrengender Weg. Aber unbeirrt ging sie weiter, ihr Bein nachziehend, während ich ihr in diskretem Abstand folgte. Nichts von dem, was die vielen Schaufenster zu bieten hatten, erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein paarmal wechselte sie ihre Einkaufstüte und ihre Handtasche von rechts nach links und wieder zurück, aber ansonsten stöckelte sie nur mit steten Schritten weiter.
    Endlich bog sie von der belebten Hauptstraße ab. Sie schien sich in diesem Stadtteil gut auszukennen. Kaum hatte man das Gewühl des Einkaufsviertels verlassen, kam man in eine ruhige Wohnstraße. Noch mehr als bisher achtete ich darauf, unter den nun spärlichen Passanten nicht aufzufallen.
    Insgesamt muß ich ihr vierzig Minuten lang gefolgt sein. Wir gingen die ruhige Nebenstraße entlang, bogen um mehrere Ecken und gelangten erneut auf die Hauptverkehrsstraße. Aber die Frau schloß sich nicht wieder dem vorüberziehenden Menschenstrom an, sondern strebte, als habe sie die ganze Zeit nichts anderes vorgehabt, auf ein Café zu und verschwand darin. Es war eine kleine Konditorei. Ich schlenderte vielleicht zehn Minuten lang auf und ab, dann ging ich ebenfalls hinein.
    Drinnen war es unerträglich heiß, dennoch saß sie, mit dem Rücken zur Tür, noch immer in

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