Gefährliche Geliebte
aber der Anzug nicht.«
Sie lächelte mich an.
»Shimamoto-san«, sagte ich. »Weißt du, ich wünsche mir schon so unendlich lange, dich wiederzusehen. Mit dir zu reden. Es gab so vieles, was ich dir gern erzählt hätte.«
»Ich wollte dich auch wiedersehen«, sagte sie. »Aber du bist nie gekommen. Das ist dir doch klar, oder? Seit du in einer anderen Stadt auf die Mittelschule gekommen bist, habe ich auf dich gewartet. Warum hast du mich nicht besucht? Ich war deswegen wirklich traurig. Ich dachte, du hättest in deiner neuen Umgebung neue Freunde gefunden und mich völlig vergessen.«
Shimamoto drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Ihre farblos lackierten Nägel glichen kleinen Kunstobjekten, blank, aber unaufdringlich.
»Ich hatte Angst«, sagte ich. »Deswegen bin ich nicht gekommen.«
»Angst?« fragte sie. »Wovor? Vor mir?«
»Nein, nicht vor dir. Vor Zurückweisung. Ich war noch ein Kind. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß du wirklich auf mich wartest. Ich hatte eine entsetzliche Angst, du würdest mich zurückweisen. Ich würde dich besuchen kommen, und du hättest keine Lust, mich zu sehen. Darum bin ich nicht mehr gekommen. Wenn schon alles vorbei sein sollte, wollte ich mir zumindest die schönen Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit bewahren.«
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite und ließ eine Cashewnuß in ihrer hohlen Hand herumrollen. »Es läuft nicht alles so, wie man es möchte, nicht?«
»Nein, wirklich nicht.«
»Aber eigentlich hätten wir viel, viel länger befreundet bleiben sollen. Ich habe die ganze Mittelschule, Oberschule, sogar das College hinter mich gebracht, ohne mich mit jemandem anzufreunden. Immer war ich allein. Ich stellte mir vor, wie wunderschön es wäre, dich an meiner Seite zu haben. Und wenn du schon nicht dasein konntest, hätten wir uns wenigstens schreiben können. Es hätte alles verändert. Ich wäre dem Leben eher gewachsen gewesen.« Sie schwieg eine Weile. »Ich weiß nicht genau, warum, aber seit ich auf die Mittelschule kam, ging es mit mir in der Schule bergab. Und das hatte zur Folge, daß ich mich noch mehr in mich zurückgezogen habe. Ein Teufelskreis, könnte man sagen.«
Ich nickte.
»Bis zum Ende der Grundschule lief alles gut, aber danach wurde es furchtbar. Ich fühlte mich, als säße ich auf dem Grund eines Brunnens fest.«
Ich kannte das Gefühl. Genau so war es mir während der zehn Jahre meines Lebens zwischen dem College und meiner Heirat mit Yukiko ergangen. Es braucht nur eine einzige Sache schiefzulaufen, und das ganze Kartenhaus bricht zusammen. Und man schafft's und schafft's nicht, sich daraus zu befreien. Bis jemand vorbeikommt und einen herauszieht.
»Ich hatte dieses dumme Bein und konnte nichts von dem tun, was andere taten. Ich habe immer nur gelesen und bin für mich geblieben. Und ich falle überall auf. Durch mein Aussehen, meine ich. Also hielten mich die meisten Leute über kurz oder lang für eine verdrehte, arrogante Frau. Und das bin ich vielleicht am Ende auch geworden.«
»Nun ja, du siehst schon umwerfend aus«, sagte ich. Sie steckte sich eine weitere Zigarette zwischen die Lippen. Ich riß ein Streichholz an und gab ihr Feuer.
»Findest du wirklich, daß ich hübsch bin?« fragte sie.
»Ja. Aber du mußt das doch andauernd zu hören bekommen.«
Shimamoto lächelte. »Eigentlich nicht. Um ehrlich zu sein, finde ich mein Gesicht nicht besonders toll. Deswegen macht es mich sehr froh, daß du das gesagt hast. Leider mögen mich andere Frauen nicht sonderlich. Wie oft habe ich gedacht: Ich möchte nicht, daß die Leute sagen, ich sei hübsch. Ich möchte nur ein ganz normales Mädchen sein und Freunde haben wie alle anderen.«
Sie streckte die Hand aus und strich leicht über meine, die auf der Theke lag. »Aber es freut mich, daß du das Leben genießt.«
Ich schwieg.
»Du bist doch glücklich, oder?«
»Ich weiß nicht. Zumindest bin ich nicht unglücklich, und ich bin nicht einsam.« Einen Augenblick später fügte ich hinzu: »Aber manchmal überkommt mich der Gedanke, daß damals, als wir bei dir im Wohnzimmer saßen und zusammen Musik hörten, die glücklichste Zeit in meinem Leben war.«
»Weißt du, ich habe die Platten immer noch. Nat King Cole, Bing Crosby, Rossini, die Peer-Gynt-Suite und all die anderen. Keine einzige fehlt. Mein Vater hat sie mir zum Andenken geschenkt, als er gestorben ist. Ich gehe sehr vorsichtig mit ihnen um, darum haben sie auch nach all den Jahren nicht
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