Gefährliche Geliebte
läuft schief, dann noch eine und noch eine, und das Ergebnis ist, daß wir uns verpassen. Aber wie auch immer, ich möchte von dir hören. Wie dein Leben verlaufen ist.«
»Das würde dich zu Tode langweilen«, sagte ich.
»Ist mir egal. Ich will es trotzdem wissen.«
Also gab ich ihr ein knappes Resümee meines Lebens. Erzählte, daß ich auf der Oberschule eine Freundin gehabt, ihr aber am Ende sehr weh getan hatte. Die schmutzigen Details ersparte ich Shimamoto; ich sagte lediglich, daß etwas passiert war und ich diesem Mädchen weh getan hatte. Und dabei mir selbst nicht minder. Daß ich in Tokio aufs College gegangen war und bei einem Schulbuchverlag gearbeitet hatte. Daß meine Jahre zwischen Zwanzig und Dreißig aus einsamen Tagen bestanden hatten, daß es nicht einen Freund für mich gegeben hatte. Daß ich zwar mit Frauen ausgegangen, aber nie glücklich gewesen war. Daß ich vom Ende der Oberschule bis zu meiner Begegnung mit Yukiko niemanden wirklich gern gehabt hatte. Daß ich damals oft an sie gedacht hatte, mir überlegt hatte, wie schön es wäre, wenn wir uns Wiedersehen und miteinander reden könnten, und sei es nur für eine Stunde. Shimamoto lächelte.
»Du hast an mich gedacht?«
»Unentwegt.«
»Und ich habe an dich gedacht«, sagte sie. »Wann immer es mir schlechtging. Du warst der einzige Freund, den ich je gehabt habe, Hajime.« Das Kinn in die Hand gestützt, den Ellbogen auf der Theke, schloß sie die Augen, als sei alle Kraft aus ihrem Körper gewichen. Sie trug keinen Ring. Die feinen Härchen an ihren Unterarmen zitterten. Endlich schlug sie die Augen langsam wieder auf und warf einen Blick auf ihre Uhr. Ich sah auch hin. Es war fast Mitternacht.
Sie griff nach ihrer Handtasche und glitt vom Barhocker. »Gute Nacht. Ich bin sehr froh, daß ich dich sehen konnte.«
Ich begleitete sie zur Tür. »Soll ich dir ein Taxi rufen? Es regnet, du könntest Mühe haben, eins zu finden. Falls du vorhast, mit dem Taxi nach Hause zu fahren, meine ich.«
Shimamoto schüttelte den Kopf. »Schon gut, bemüh dich nicht. Ich komm allein zurecht.«
»Warst du wirklich nicht enttäuscht?« fragte ich.
»Von dir?«
»Ja.«
»Nein.« Sie lächelte. »Keine Sorge. Aber dieser Anzug - er ist doch von Armani, nicht?«
Sie zog das Bein nicht mehr so nach wie früher. Sie ging nicht besonders schnell, und wenn man genau hinsah, hatte ihr Gang etwas leicht Künstliches. Aber insgesamt wirkte er völlig natürlich.
»Ich habe mich vor vier Jahren operieren lassen«, sagte sie fast entschuldigend. »Ich würde das Ergebnis nicht als hundertprozentig gelungen bezeichnen, aber so schlimm, wie es einmal war, ist es mit Sicherheit nicht mehr. Es war eine große Operation, sie mußten alle möglichen Knochen zurechtfeilen und zusammenflicken. Aber es ist alles gutgegangen, »Und ob. Dein Bein sieht aus, als wäre es völlig in Ordnung«, sagte ich.
»Ist es auch«, sagte sie. »Wahrscheinlich war es eine vernünftige Entscheidung. Auch wenn ich vielleicht zu lang damit gewartet habe.«
Ich holte ihr den Mantel aus der Garderobe und half ihr hinein. Nun, wo sie neben mir stand, merkte ich, daß sie nicht besonders groß war. Ich fand das seltsam. Mit zwölf waren wir ungefähr gleich groß gewesen.
»Shimamoto-san, werde ich dich wiedersehen?«
»Wahrscheinlich«, entgegnete sie. Ein Lächeln spielte um ihren Mund, ein Lächeln wie ein durchscheinendes Rauchwölkchen, das an einem windstillen Tag himmelwärts schwebt. »Wahrscheinlich.«
Sie öffnete die Tür und ging hinaus. Fünf Minuten später folgte ich ihr die Treppe hoch auf die Straße. Ich befürchtete, sie könnte Schwierigkeiten haben, ein Taxi anzuhalten. Es regnete noch immer. Und Shimamoto war nirgends zu sehen. Die Straße war menschenleer. Die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos ließen das nasse Pflaster verschwimmen.
Vielleicht, sagte ich mir, hatte ich eine Halluzination. Lange stand ich da und starrte auf die regengepeitschten Straßen. Ich war wieder ein zwölfjähriger Junge, der stundenlang in den Regen starrt. Wenn man nur lang genug in den Regen sieht, ohne einen Gedanken im Kopf, spürt man, wie der Körper sich löst, wie er die Realität abschüttelt. Regen besitzt eine hypnotische Wirkung.
Aber es war keine Halluzination gewesen. Als ich in die Bar zurückging, standen dort, wo sie gesessen hatte, noch ihr Glas und ein Aschenbecher. Ein paar leicht zerdrückte Zigarettenstummel lagen im Aschenbecher nebeneinander, jeder
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