Gefährliche Geliebte
einen neuen Platz zu finden, mir ein neues Leben, eine neue Identität zu erobern. Zum Teil gehört das wohl zum Erwachsenwerden, aber es ist auch ein Versuch, mich neu zu erfinden. Indem ich ein anderer würde, könnte ich mich von allem befreien. Ich glaubte ernsthaft, ich könnte mir selbst entkommen - wenn ich mir nur genug Mühe gäbe. Aber jedesmal bin ich in einer Sackgasse gelandet. Wohin ich mich auch wende, immer bleibe ich derselbe. Das, was fehlt, ändert sich nie. Die Kulisse ändert sich vielleicht, aber ich bin immer noch derselbe unvollständige Mensch. Dieselben fehlenden Dinge quälen mich, und nie kann ich diesen Hunger stillen. Ich glaube sogar, gerade dieser Mangel definiert mich - genauer kann ich mich nicht beschreiben. Um deinetwillen würde ich gern ein neuer Mensch. Es mag nicht einfach sein, aber wenn ich mein Bestes gebe, schaffe ich es vielleicht doch, mich zu ändern. Die Wahrheit ist jedoch, daß ich in der gleichen Situation durchaus wieder genauso handeln könnte, dir wieder genauso weh tun würde. Ich kann nichts versprechen. Das meinte ich, als ich sagte, ich hätte kein Recht. Mir fehlt einfach die Zuversicht, daß es mir gelingen wird, diese Kraft in mir zu besiegen.«
»Und du hast schon immer versucht, dieser Kraft zu entrinnen?«
»Ich glaube ja«, sagte ich.
Ihre Hand ruhte noch immer auf meiner Brust. »Du armer Mann«, sagte sie. Als lese sie etwas vor, das in großen Lettern auf einer Wand geschrieben stand. Vielleicht steht es wirklich auf der Wand, dachte ich.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte ich. »Ich weiß, daß ich dich nicht verlassen will. Aber ich weiß nicht, ob das die richtige Antwort ist. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt von meiner Entscheidung abhängt. Yukiko, du leidest, das kann ich sehen. Ich kann deine Hand hier spüren. Aber jenseits des Sichtbaren und Spürbaren gibt es noch etwas. Nenn es Gefühle. Oder Möglichkeiten. Die quellen von irgendwo hervor und vermischen sich in mir. Sie sind nichts, wofür oder wogegen ich mich entscheiden könnte - nichts, wozu ich eine Antwort geben könnte.«
Yukiko schwieg sehr lange. Manchmal ratterte draußen ein Lastwagen vorbei. Ich blickte aus dem Fenster, konnte aber nichts sehen. Nur den namenlosen Zeit-Raum zwischen Nacht und Morgengrauen.
»Die letzten paar Wochen dachte ich wirklich, ich würde sterben«, sagte Yukiko. »Ich sag das nicht, um dir zu drohen. Es ist eine Tatsache. So einsam und so traurig war ich. Zu sterben ist gar nicht so schwer. Wie Luft, die aus einem Zimmer gesaugt wird, ist mein Lebenswille dahingeschwunden. Wenn man sich so fühlt, kommt einem der Tod gar nicht mehr so schlimm vor. Ich habe nicht mal an die Kinder gedacht, mich nicht mal gefragt, was nach meinem Tod aus ihnen werden würde. So einsam habe ich mich gefühlt. Das hast du nicht gewußt, oder? Du hast dir nie ernstlich Gedanken darum gemacht, stimmt's? Wie ich empfand, was ich dachte, was ich tun könnte.«
Ich sagte nichts. Sie nahm die Hand von meiner Brust und legte sie in ihren Schoß.
»Jedenfalls bin ich nur darum nicht gestorben, weil ich dachte, wenn du zu mir zurückkämst, wäre ich imstande, dich wieder anzunehmen. Nur darum lebe ich noch. Es ist keine Frage von Rechten, auch nicht von richtig oder falsch. Vielleicht bist du wirklich ein hoffnungsloser Fall, ein wertloser Mensch. Und es ist gut möglich, daß du mir erneut weh tust. Aber das ist hier das Wichtigste. Du verstehst überhaupt nichts.«
»Absolut möglich«, sagte ich.
»Und du fragst nie nach«, sagte sie.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich brachte kein Wort heraus. Sie hatte recht: Ich fragte sie nie etwas. Warum eigentlich nicht? Ich wußte es nicht.
»Rechte sind etwas, was man sich erwirbt«, sagte Yukiko. »Oder besser gesagt, was wir erwerben. Wir meinten, wir hätten gemeinsam vieles geschaffen, aber in Wirklichkeit haben wir nichts zustande gebracht. Das Leben verlief zu glatt. Wir waren zu glücklich. Meinst du nicht auch?«
Ich nickte.
Yukiko verschränkte die Arme über der Brust und sah mich an. »Ich hatte auch einmal Träume, weißt du. Aber irgendwo unterwegs sind sie mir abhanden gekommen. Das war, bevor ich dich kennenlernte. Ich habe sie getötet, sie zerdrückt und weggeworfen. Wie ein inneres Organ, das man nicht mehr braucht und sich aus dem Leib reißt. Ich weiß nicht, ob es richtig war, aber damals konnte ich nicht anders ... Manchmal habe ich so einen Traum, immer wieder
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