Gefährliche Ideen
hatte. Bei jeder internen (oder auch externen) Diskussion über Innovationen oderdie Entwicklung neuer Ideen und Strategien wurde immer wieder betont, wie überaus wichtig Know-how für das Unternehmen sei. Es klang beinahe wie eine Religion, ein Mantra.
So wie ich nun einmal gestrickt bin, war dies natürlich mein erstes Thema, als ich ein Kreativitätsseminar für das Topmanagement des Unternehmens leitete. Ich bat die versammelte Führungscrew, eine neue Unternehmensstrategie zu entwerfen, dabei jedoch zu unterstellen, dass die Firma über keinerlei eigenes Know-how verfügte und daher jegliche Expertise von Fremdanbietern einkaufen musste. Plötzlich erwies sich diese eigentlich leichte Übung, die alle schon einige Male absolviert hatten, als außergewöhnlich schwierig. Nicht wenige der Topmanager fingen an, auf ihren Stühlen herumzurutschen, während andere leise vor sich hin murmelten oder auf andere Weise ihren Unmut und ihr Unwohlsein zum Ausdruck brachten. Dies zog sich eine Weile hin, bis es einem zu viel wurde und er laut brüllte: »Aber das ist doch Quatsch! Was bringt es denn, über eine Situation nachzudenken, in der unser bester und einziger Wettbewerbsvorteil nicht mehr existiert?« Damit traf er natürlich ins Schwarze.
Was lernen wir daraus? Kurz gefasst: Wenn ein Unternehmen oder eine Einzelperson kreativer werden und ihre Fähigkeit zur Entwicklung neuer Ideen verbessern möchten, dann gilt es zunächst zu klären, welche Ideen als tabu, unpassend oder dumm erachtet werden oder worüber nicht gerne gesprochen wird. Mit anderen Worten: Wer echte Kreativität entwickeln möchte, muss sich mit den
Tabus der Kreativität
befassen. Genauso wie uns der Gedanke an kreative Foltermethoden schaudern lässt, schreckten die Verantwortlichen bei Sordin Inc. davor zurück, den kreativen Spielraum zu nutzen, den ihnen der Verzicht auf die Annahme ihres weltweit führenden Know-hows eröffnet hätte.
Genau dann, wenn es etwas weniger angenehm wird und die Manager anfangen, auf ihren Stühlen herumzurutschen, beginnt sich echte Kreativität zu entfalten.
Die Untersuchung bösartiger Spielarten von Kreativität kann bei der Bekämpfung unserer Neigung, vermeintlich anstößige und unangenehme Dinge zu ignorieren oder sich davon zu distanzieren,behilflich sein. Das Nachdenken über böswillige Kreativität dient dem Gehirn als eine Art Schocktherapie, die es aus seiner Komfortzone schubst. Doch dies ist nur einer der möglichen Ansätze, und wir werden noch viele weitere kennen lernen, denn wir stehen erst am Anfang unserer Erkundung gefährlichen Denkens. Entscheidend ist hier die Erkenntnis, dass genau dann, wenn es etwas weniger angenehm wird und die Manager anfangen, auf ihren Stühlen herumzurutschen, sich echte Kreativität zu entfalten beginnt.
Unbehagen – Herzlich Willkommen!
Diese Erkenntnis erlaubt es dem Unbehagen, in die Diskussion einzufließen. Jedes Unternehmen und jede Einzelperson hat einen individuellen Punkt, an dem Unbehagen und Schmerz einsetzen, daher muss man zunächst die bestehenden Normen ermitteln, die die Entfaltung von Kreativität behindern. Diese Normen äußern sich auf vielfältige Weise und dienen als Leitfaden für große Teile unseres Denkens – sie entscheiden darüber, was wir als wichtig, angenehm, schön, effektiv und so weiter betrachten, und sie leiten unser Handeln und unseren Entscheidungsfindungsprozess.
Sobald diese Normen ermittelt sind, gilt es, sie unbarmherzig und aggressiv infrage zu stellen. Als die Sex Pistols sich ernsthaft daran machten, ihr einziges echtes Album auf den Markt zu bringen, sorgte Bandmanager Malcolm McLaren dafür, dass die Gruppe sogar eine Anspielung auf das silberne Thronjubiläum von Königin Elisabeth mit aufnahm – in Form der Single »God Save the Queen«, einer besonders unerhörten Provokation. DieBand mietete eigens ein Boot, um von der Themse aus sowohl das Parlamentsgebäude als auch den Westminster-Palast mit diesem kleinen, Norm(alität)en brechenden Musikstück zu beschallen, doch das Boot wurde von der Polizei angehalten und die Band zum Abbruch ihrer Vorstellung gezwungen. Mit anderen Worten: McLaren verstand sehr genau, wo in der kollektiven Psyche des britischen Establishments das Unbehagen einsetzte, und er nutzte diese Erkenntnis, um auszuprobieren, wie weit er gehen konnte. Die britische Gesellschaft reagierte empört, und sein kreatives Projekt erwies sich als unmittelbarer Erfolg. So erklärt sich, dass
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