Gefaehrliche Liebe
Hungrigen.
»Ja, iss es auf«, sage ich. Bonnie hält das Brötchen, als könnte sie nicht recht glauben, dass es echt ist, dann gräbt sie immer wieder die Zähne hinein, sie kann nicht aufhören. »Es ist besser, wenn du kaust.« Sie nickt und versucht, langsamer zu essen, aber ich weiß, wie schwer das ist, wenn man so ein Loch im Bauch hat. »Ich glaube, euer Tee ist fertig.« Schnell nehme ich die Blechdose aus der Asche. Twill kramt zwei Blechtassen aus ihrem Rucksack und ich schenke den Tee aus und stelle ihn zum Abkühlen auf den Boden. Sie kauern sich zusammen, essen, pusten in ihre Tassen und trinken winzige Schlucke von dem brühend heißen Tee, während ich mich um das Feuer kümmere. Ich warte, bis sie sich das Fett von den Fingern lecken, dann frage ich: »Also, was habt ihr erlebt?« Und sie fangen an zu erzählen.
Seit den Hungerspielen war die Unzufriedenheit in Distrikt 8 immer größer geworden. In gewissem Maß war sie natürlich immer da gewesen. Nur genügte es jetzt nicht mehr zu reden, und die Idee, zur Tat zu schreiten, wurde vom Wunsch zur Realität. In den Textilfabriken, die Panem beliefern, ist es immer laut von den Maschinen, und bei dem Lärm war es ein Leichtes, etwas weiterzusagen, Lippen dicht an einem Ohr, Worte unbemerkt, ungehindert. Twill unterrichtete an der Schule, Bonnie war eine ihrer Schülerinnen, und nach Schulschluss rissen sie zusammen noch eine Vierstundenschicht in der Fabrik ab, die sich auf Uniformen für die Friedenswächter spezialisiert hatte. Bonnie, die in der kalten Fertigungskontrolle arbeitete, brauchte Monate, bis sie die beiden Uniformen beschafft hatte, einen Stiefel hier, eine Hose da. Sie waren für Twill und ihren Mann gedacht, denn wenn der Aufstand größere Kreise ziehen und erfolgreich sein sollte, mussten sie die Nachricht selbstverständlich über Distrikt 8 hinaus verbreiten.
An dem Tag, als Peeta und ich unseren Auftritt bei der Tour der Sieger hatten, fand eine Art Generalprobe statt. Die Leute in der Menge stellten sich in ihren Gruppen auf, an den Gebäuden, die sie ins Visier nehmen wollten, wenn der Aufstand ausbrach. Das war der Plan: die Zentren der Macht in der Stadt zu übernehmen, also das Justizgebäude, das Hauptquartier der Friedenswächter und das Kommunikationszentrum auf dem Platz. Und anderswo im Distrikt: die Eisenbahn, den Kornspeicher, das Elektrizitätswerk und das Waffenlager.
Der Abend meiner Verlobung, der Abend, an dem Peeta auf die Knie fiel und im Kapitol vor laufenden Kameras seine unsterbliche Liebe zu mir gestand, das war der Abend, an dem der Aufstand begann. Das Interview mit Caesar Flickerman auf unserer Tour der Sieger bot einen optimalen Deckmantel. Es war Pflichtprogramm für alle, und so hatte das Volk von Distrikt 8 einen Vorwand, nach Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen zu sein. Sie versammelten sich zum Zuschauen entweder auf dem Platz oder an verschiedenen Treffpunkten in der Stadt. Normalerweise wäre ein solches Treiben zu verdächtig gewesen. So jedoch waren alle zur vorgeschriebenen Zeit, um acht Uhr, zur Stelle, als die Masken aufgesetzt wurden und die Hölle ausbrach.
Anfangs wurden die Friedenswächter von der Menge überwältigt, auf einen solchen Massenaufstand waren sie nicht vorbereitet. Das Kommunikationszentrum, der Kornspeicher und das Elektrizitätswerk wurden sämtlich eingenommen. Die Rebellen nahmen die Waffen der toten Friedenswächter an sich. Es gab Hoffnung, dass das Ganze keine Wahnsinnstat war, dass es, wenn sich die Nachricht in den anderen Distrikten verbreitete, irgendwie möglich wäre, die Regierung zu stürzen.
Doch dann schlug das Kapitol zurück. Friedenswächter kamen zu Tausenden. Hovercrafts zerbombten die Stützpunkte der Rebellen. In dem Chaos, das folgte, waren die Leute schon froh, wenn sie es lebend nach Hause schafften. In weniger als achtundvierzig Stunden war die Stadt bezwungen. Dann wurde sie eine Woche lang abgeriegelt. Keine Lebensmittel, keine Kohle, Ausgangssperre. Nur einmal war im Fernsehen etwas anderes als Schnee zu sehen, das war, als diejenigen, die als Rädelsführer verdächtigt wurden, auf dem Platz gehängt wurden. Dann, eines Nachts, als der gesamte Distrikt zu verhungern drohte, kam plötzlich der Befehl, wieder zur Tagesordnung überzugehen.
Für Bonnie und Twill bedeutete das, dass sie wieder in die Schule mussten. Weil eine Straße durch die Bombardierung unzugänglich war, kamen sie zu spät zu ihrer Schicht in der Fabrik, und so
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