Gefaehrliche Liebe
Hymne erklingt und die alljährliche Zusammenfassung der Erntezeremonien in den zwölf Distrikten beginnt.
Die Geschichte der Spiele weist fünfundsiebzig Sieger aus. Neunundfünfzig von ihnen sind noch am Leben. Ich erkenne viele der Gesichter wieder, entweder weil ich sie bei früheren Spielen als Tribute oder Mentoren gesehen habe, oder von den Siegervideos, die wir uns vor Kurzem angeschaut haben. Manche Sieger sind so alt oder von Krankheit, Drogen und Alkohol derart gezeichnet, dass ich sie nicht einordnen kann. Wie zu erwarten, stellen die Karrieretribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 die stärkste Gruppe. Doch immerhin kann jeder Distrikt einen weiblichen und einen männlichen Sieger vorweisen.
Die Ernten sind rasch vorbei. Peeta macht in seinem Notizblock hinter die Namen der Ausgelosten eifrig Sternchen. Haymitch schaut mit ausdruckslosem Gesicht zu, wie seine Freunde hervortreten und auf die Bühne steigen. Effie gibt leise, bekümmerte Kommentare von sich wie »Oh nein, nicht Cecelia« oder »Na, Chaff hat ja noch nie einen Kampf ausgelassen« und seufzt häufig auf.
Ich für meinen Teil versuche mir die anderen Tribute, so gut es geht, einzuprägen, aber wie letztes Jahr bleiben nur ein paar Gesichter hängen. Aus Distrikt 1 kommt das Geschwisterpaar, klassische Schönheiten, sie gewannen die Spiele in zwei aufeinanderfolgenden Jahren, als ich noch klein war. Brutus, ein Freiwilliger aus Distrikt 2, der mindestens vierzig sein muss und es augenscheinlich gar nicht erwarten kann, wieder in die Arena zu kommen. Finnick, der hübsche Junge aus Distrikt 4 mit dem bronzefarbenen Haar, der vor zehn Jahren im Alter von 14 zum Sieger gekrönt wurde. Ebenfalls in Distrikt 4 wird eine hysterische junge Frau mit wallendem braunen Haar ausgelost, jedoch rasch durch eine Freiwillige ersetzt, eine etwa Achtzigjährige, die einen Gehstock braucht, um zur Bühne zu kommen. Dann ist da noch Johanna Mason, die einzige überlebende Siegerin aus Distrikt 7, die vor einigen Jahren gewann, indem sie so tat, als könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Die Frau aus Distrikt 8, die Effie Cecelia nennt, sieht aus wie dreißig und muss sich von drei Kindern lösen, die sich an sie klammern. Chaff, ein Mann aus Distrikt 11, von dem ich weiß, dass er zu Haymitchs engen Freunden gehört, ist auch dabei.
Ich werde aufgerufen, dann Haymitch. Und Peeta meldet sich freiwillig. Die Sprecherin bekommt eine weinerliche Stimme, weil die Chancen mal wieder schlecht stehen für uns, das tragische Liebespaar aus Distrikt 12. Dann reißt sie sich zusammen und verkündet allen, sie gehe jede Wette ein, dies würden »die besten Spiele aller Zeiten!«.
Wortlos verlässt Haymitch das Abteil. Effie macht noch ein paar zusammenhanglose Kommentare über diesen und jenen Tribut und sagt dann Gute Nacht. Ich sitze nur da und sehe Peeta zu, wie er die Seiten der Sieger herausreißt, die nicht ausgelost wurden.
»Warum legst du dich nicht ein bisschen hin?«, fragt er.
Weil ich mit den Albträumen nicht fertigwerde. Nicht ohne dich,
denke ich. Und heute Nacht werde ich mit Sicherheit entsetzliche Albträume haben. Aber ich kann Peeta schlecht fragen, ob er bei mir schläft. Wir haben uns kaum berührt seit dem Abend, an dem Gale ausgepeitscht wurde. »Was hast du vor?«, frage ich.
»Ich will meine Notizen noch mal durchgehen. Mir ein genaues Bild machen, mit wem wir es zu tun bekommen. Morgen früh können wir das Ganze besprechen. Geh schlafen, Katniss«, sagt er.
Also gehe ich schlafen und wache natürlich nach wenigen Stunden aus einem Albtraum auf, in dem die alte Frau aus Distrikt 4 sich in ein großes Nagetier verwandelt und an meinem Gesicht knabbert. Ich muss geschrien haben, aber niemand kommt. Nicht Peeta, nicht mal einer von den Dienern des Kapitols. Um die Gänsehaut, die über meinen Körper kriecht, zu vertreiben, ziehe ich einen Bademantel über. Ich kann unmöglich in meinem Abteil bleiben, deshalb beschließe ich, jemanden aufzutreiben, der mir einen Tee oder Kakao oder sonst was macht. Vielleicht ist Haymitch ja noch wach. Er schläft bestimmt nicht.
Bei einem Diener bestelle ich eine warme Milch, das Beruhigendste, was mir einfällt. Ich höre Geräusche aus dem Fernsehabteil, gehe hinein, und da ist Peeta. Neben ihm auf dem Sofa steht die Kiste voller Videos mit Aufzeichnungen früherer Hungerspiele, die Effie zusammengestellt hat. Ich erkenne die Folge, als Brutus Sieger wurde.
Als Peeta mich sieht, steht er auf und
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