Gefaehrliche Maskerade einer Lady
antreten konnte, erreichte sie die Nachricht von seinem Tod.“
Rafe suchte nach Worten, um das Unerklärliche zu erläutern. „Sie wusste nichts vom Verbleib ihrer Enkeltochter, auch nicht, ob Sie überhaupt noch am Leben waren. Den Grund hierfür kenne ich nicht.“
Seine Zuhörerin drückte ihre Knie noch enger an ihre Brust und schwieg so beharrlich wie feindselig. Sie tat, als berührten sie all diese Worte nicht im Geringsten. Rafe wusste nicht, wie ihr Leben in den vergangenen Jahren ausgesehen hatte, aber er konnte ihr nicht verdenken, verbittert, wütend und auch argwöhnisch zu sein.
„Lady Cleeve hatte wohl Jahre zuvor einen Brief von ihrem Sohn erhalten, in dem er ihr in knappen Worten mitteilte, dass seine Ehefrau und seine Tochter verstorben waren, ohne allerdings näher auf die Umstände ihres Todes einzugehen. Vermutlich war er von den schmerzlichen Verlusten so überwältigt, dass er nicht in der Lage war, näher darauf einzugehen.“ Rafe schüttelte den Kopf. „Lady Cleeve war der Ansicht, er meinte Sie mit seiner verstorbenen Tochter. Sie trug mir auf, Ihnen zu sagen, wie furchtbar sie um ihre kleine Enkelin trauerte, die nach ihr benannt worden war. Zuvor hat sie Ihnen viele Briefe und Geschenke geschickt, erinnern Sie sich? Erinnern Sie sich an eine Puppe mit goldblonden Haaren?“
Das Mädchen zeigte nicht die geringste Regung. Störrisches kleines Geschöpf, dachte er. Er bewunderte ihre Willensstärke, auch wenn er nicht begreifen konnte, warum sie ihm nicht erleichtert um den Hals fiel und ihn bat, sie umgehend zu ihrer Großmutter zu bringen.
Letzten Endes würde sie sich seinem Willen beugen müssen und mit ihm nach England reisen. Sie hatte gar keine andere Wahl.
Er brachte es nicht übers Herz, dieses tapfere Mädchen, das sich als Junge ausgab und sich unter Schmutz, Lumpen und ihrem Zorn versteckte, seinem elenden Schicksal in Kairo zu überlassen.
Aus einem unerfindlichen Grund war ihm die kleine wilde Schönheit bei dem Gerangel auf dem Fußboden so nahe gekommen wie keine Frau vor ihr.
Sie war zur persönlichen Herausforderung für ihn geworden. „Allem Anschein nach war Ihr Vater kein begnadeter Briefschreiber, und nach dem Tod Ihrer Mutter hat er noch seltener geschrieben, ohne je etwas Persönliches von sich preiszugeben. Und dann ist auch er gestorben.“
Rafe stockte, doch seine Gefangene schwieg noch immer beharrlich. Schließlich fuhr er fort: „In den letzten sechs Jahren wähnte sich Ihre Großmutter allein auf dieser Welt.“
Lady Cleeves Einsamkeit war nicht zu vergleichen mit der ihrer Enkelin, die verloren und verängstigt in der Sofaecke kauerte.
„Vor einigen Monaten nun bekam Ihre Großmutter überraschend Besuch von Alaric Stretton, vielleicht erinnern Sie sich an ihn, er ist ein berühmten Forschungsreisenden und Künstler und stand früher in Verbindung mit Ihrem Vater.“
Sie zuckte nicht einmal mit einer Wimper.
„Lady Cleeve hatte ihn vor vielen Jahre in Indien kennengelernt. Mr Stretton hatte Ihren Vater wenige Wochen vor dessen Tod zum letzten Mal gesehen und brachte Lady Cleeve nun einige Andenken an ihren Sohn.“
Rafe hielt ihr die offene braune Ledermappe hin.
Ayisha starrte auf das Bild, das all diesen Aufruhr heraufbeschworen hatte. Und auf ein Bild von ihrem Vaters, das ihn so zeigte, wie sie ihn in Erinnerung hatte, streng, ein wenig hochmütig und ernst. Auf der anderen Seite der Mappe blickte sie in ihr eigenes Gesicht. So hatte sie als Dreizehnjährige ausgesehen, ein wenig scheu, ein wenig verträumt.
Sie erinnerte sich gut an Mr Stretton. Er war ein großer, schlaksiger Mann mit blonden Haaren und gütigen blauen Augen. Er hatte ihr spannende Geschichten von seinen Reisen erzählt, damit sie still hielt, während er sie zeichnete. Seine Geschichten hatten sie verzaubert.
Aber dieses Mädchen gab es nicht mehr. Und Geschichten konnten in die Irre führen.
Der Engländer sprach weiter. Seine Stimme klang tief, leise und beinahe beschwörend. Ayisha wollte ihm nicht zuhören. Aber diese Stimme war einfach betörend. Sie wünschte, sie würde anders klingen.
„Lady Cleeve erkannte, dass nicht Sie gestorben waren, sondern offenbar eine andere Tochter, vielleicht ein Baby. Also bat sie mich, Sie in Ägypten zu suchen. Und ich habe Sie endlich gefunden wie eine verloren geglaubte Heldin aus einem Roman.“
Ayisha starrte auf das Bild ihres Vaters und ihr wesentlich jüngeres Konterfei. Wirre Gedanken schwirrten ihr durch den
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