Gefaehrliche Sehnsucht
vorwärts. Er war froh, dass seine Sportschuhe eine dicke Gummisohle hatten und er sich lautlos auf dem Asphalt bewegen konnte. Ohne nach links oder rechts zu sehen, hielt er auf das Haus der Taylors zu. Plötzlich verlangsamte er seine Schritte. Er sah, wie sich ein großer Schatten über die Straße vom Haus der Taylors in Richtung Stadtpark wegbewegte. Unruhe erfasste ihn. Sein Instinkt sagte ihm, er sollte umkehren. Aber Noah wusste nicht, wohin er umkehren sollte. Er wohnte am anderen Ende der Stadt. Zu Fuß würde er sicher über eine Stunde unterwegs sein. Und er wollte keine Stunde mehr allein in der Dunkelheit der Stadt verbringen. Er sah zum Haus der Taylors, das nur noch ein paar Meter vor ihm lag, und es brannte noch Licht. Er unterdrückte das ungute Gefühl, das ihn am Denken hinderte, und ging weiter. Plötzlich sah er grau-weiße Nebelschwaden, die sich am Boden entlang in seine Richtung bewegten und immer größer wurden. Noahs Atem begann schwer und panisch zu werden. Das erste Mal in seinem Leben begriff er, was Angst mit einem Körper anstellen konnte. Ein schriller Schrei entrang sich seiner Kehle, als aus dem Nichts eine Hand schoss und ihn vom Boden abhob. Weiße Zähne näherten sich seinem Hals. Er war so verwirrt, dass er glaubte, sein Verstand würde jeden Moment zerbrechen. Bevor ihn gnädige Dunkelheit einhüllte, spürte er einen kurzen stechenden Schmerz, als spitze Zähne seine Haut durchbohrten. Genussvoll saugte der Vampir an Noahs Hals. Er kümmerte sich nicht um das schmatzende Geräusch, das er dabei von sich gab. Seine leuchtenden Augen waren auf das Haus gegenüber gerichtet. In seinem Inneren flackerte der Wunsch, jemand von dort möge ihn hören und kommen ...
Shelly saß Leah und Aidan gegenüber und lauschte angestrengt. Sie hörte ein Geräusch, das sie an etwas erinnerte. An etwas, das sie am liebsten für immer vergessen würde.
»Ihr bleibt hier«, sagte sie in strengem Ton. »Ihr dürft auf keinen Fall das Haus verlassen.«
»Was ist los?«, fragte Leah, noch immer ein wenig zittrig vom schrecklichen Erlebnis vor dem Club.
»Pscht, ich höre etwas«, flüsterte Shelly und verschwand nach draußen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie auf die andere Straßenseite. Unter den Bäumen entlang des Shadow Rivers erkannte sie einen großen Schatten, der sich über einen leblosen Körper beugte. Mit Vampirgeschwindigkeit überquerte sie die Straße und warf sich auf den Vampir.
Diese Statur, diese Haare ... und die Augen. War das Riley?
»Riley«, sagte sie, »was tust du da?« Als Antwort erhielt sie ein kehliges Lachen. Sie hielt kurz inne. Das war nicht Riley, erkannte sie. Das Gesicht des Vampirs wandte sich ihr zu. Seine Augen verengten sich, als er seine Fangzähne ausfuhr. Kälte breitete sich in Shelly aus. Sie hielt seinem ausdruckslosen Blick stand. Sie durfte sich ihre Angst, die sie erfasste, nicht anmerken lassen. Der Vampir bewegte sich wie ein Raubtier, das sich seiner Beute sicher war. Er näherte sich Shelly blitzschnell. Ein eisiger Windstoß ließ sie ein wenig taumeln. Ein kurzer Blick auf Noahs Gesicht ließ sie erkennen, dass er im Sterben lag. Sie musste sich beeilen, wenn sie ihn retten wollte. Wut überkam sie. Wut auf diesen Vampir, der für die schlimmsten Minuten ihres Lebens verantwortlich war und der dabei war, ihre Freunde zu töten.
Mit einem Mal wurde sie innerlich komplett ruhig. Ihre Gehirnzellen arbeiteten auf Hochtouren. In einer Bewegung, die so schnell war, dass selbst ihr der Atem stockte, packte sie den Vampir und warf ihn rückwärts. Ihre wütenden Augen glühten.
Der Vampir stand in Sekundenschnelle wieder vor ihr. Shelly wusste, dass sie ihrem Gegner unterlegen war, trotzdem kämpfte sie für sich und für Noah.
Fünfzig Meter weiter bewegte sich Riley lautlos durch die Park Road. Eine leichte Brise strich kühl über sein Gesicht. Seine Gedanken gingen zu Shelly. Er hatte sich in ihr fröhliches Wesen verliebt und er hatte gespürt, er hatte ihr auch etwas bedeutet. Aber seit dieser Nacht, in der Shellys menschliches Leben aufgehört hatte zu existieren, hatte sich alles zwischen ihnen verändert. Shelly wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Sie hatte Angst vor ihm.
Riley überlegte jeden Tag, wie er Shelly seine Unschuld beweisen konnte. Er wusste, Onkel John glaubte an ihn und er wusste, Onkel John hatte Shellys fixe Meinung, er wäre der Täter gewesen, ins Schwanken gebracht. Das hatte die Situation zwischen
Weitere Kostenlose Bücher