Gefaehrliche Spur
hielt sie für wenig wahrscheinlich. War es möglich, dass ein Mann jahrelang im Kampfeinsatz gewesen war, ohne sich eine einzige Verletzung einzufangen, die eine Narbe hinterließ? Nicht unmöglich, aber höchst unwahrscheinlich.
Überhaupt umgab ihn etwas, das nicht zu einem Mann passte, der auf der Straße lebte, selbst wenn sie berücksichtigte, dass er das noch nicht sehr lange tat. War er vor irgendwem auf der Flucht? Der Polizei vielleicht? Verdammt, sie hätte ihn sofort überprüfen sollen. Früher war sie nie so nachlässig gew e sen. Aber sein Kuss … Rya schmeckte ihn immer noch und hatte das Gefühl, seit jenem Moment sehr viel lebendiger zu sein als vorher.
Sie ging an ihren Laptop, gab Tom Fox in die Suchmaschine ein und erhielt eine Fülle von Treffern. Klar, sein Name war nicht gerade selten; unter and e rem hieß auch ein bekannter Friedensaktivist so. Deshalb musste sie eine Weile suchen, bis sie etwas fand, das zu ihm passen könnte, und zwar eine Nachricht aus der Denver Post vom August letzten Jahres.
Ein Sergeant Tom Fox hatte, frisch aus Afghanistan heimgekehrt, den Freund seiner Ex-Freundin krankenhausreif geprügelt und sie wohl auch bedroht, weil sie nicht auf ihn gewartet hatte, sondern in seinem Haus mit einem anderen Mann lebte. Fox war daraufhin verschwunden und bis heute nirgends aufgetaucht. Das abgebildete Foto zeigte aber eindeutig den Mann, der noch vor wenigen Minuten in Ryas Zimmer gewesen war, auch wenn er auf dem Bild Uniform und die Haare stoppelkurz trug. Zumindest entsprach es der Wahrheit, dass er beim Militär gewesen war.
Die Polizei war jedoch nicht hinter ihm her, wie Rya erleichtert feststellte. Die ehemalige Freundin hatte, nachdem sie sich in Widersprüche verstrickt hatte, gestanden, dass ihr Lover Tom zuerst angegriffen und er sich nur ve r teidigt hatte. Außerdem stellte sich heraus, dass er der Eigentümer des Ha u ses war und das Recht gehabt hatte, den Lover rauszuwerfen. Weder der Mann noch Toms Ex-Freundin hatten ihn angezeigt. Rya würde ihm das sagen, sobald sie ihn wiedersah. Dann konnte er wieder nach Hause und musste nicht mehr auf der Straße leben.
Ob er das ernst gemeint hatte, dass er sie attraktiv fand? Sie stellte sich vor den viereckigen Spiegel über der Kommode neben der Badezimmertür. Sie fand immer noch, dass sie übermäßig blass aussah im Vergleich zu früher. Immerhin waren die dunklen Ringe unter ihren Augen verschwunden. Sie strich sich das Haar hinter das Ohr und schob den Pony nach oben. Tom hatte recht . Die Narbe sah aus wie eine Schlange.
„ Hallo, Schlange“, sagte sie und kam sich lächerlich vor.
Das Ding war eine Narbe. Verletzte Haut, die nie wieder so makellos sein würde, wie sie vorher war. Konnte ein Mann ihr Gesicht trotzdem attraktiv finden? Zumindest Tom tat das wohl, denn die Bewunderung, mit der er sie angesehen hatte, schien aufrichtig zu sein.
Du bist nicht entstellt. Das hatte nach ehrlicher Überzeugung geklungen. Vie l leicht war es an der Zeit, dass sie endlich aufhörte, sich als Opfer zu sehen und sich wie eins zu benehmen. Sie hatte überlebt. Damit hatte sie gesiegt. Doch das war nicht so einfach wie dahingesagt.
5
29. April
Travis saß in Becky’s Diner, 390 Commercial Street, und ließ sich das Frühstück schmecken. Eier mit Speck und dazu einen Becher Kaffee mit der Aufschrift Becky’s und einem Schiff darüber in Blau. Zwar hatte er schon in Joe’s House ein erstes Frühstück genossen, aber er brauchte einen Vorwand, um hier zu sein und sich mit Wayne zu treffen. Travis hatte sich in die Reihe mit den einander gegenüberstehenden, mit weinrotem Lederimitat bezogenen Bänken gesetzt, und zwar so, dass er die Tür im Auge behalten konnte.
Mit seinen Gedanken war er jedoch ganz woanders, nämlich bei Ryanne MacKinlay. Das FBI hatte damals den Fall des Washington Skinners bearbeitet. Auch wenn das nicht in die Zuständigkeit des DOC gefallen war, hatte Travis die Berichte der Washington Division darüber gelesen. Der Skinner, im realen Leben ein Schönheitschirurg, der die Gesichter der schönsten Frauen, denen er begegnet war, buchstäblich mit Haut und Haaren zu lebensechten Masken verarbeitet hatte, wäre wahrscheinlich nie gefasst worden, wenn sein letztes Opfer – das einzige Zufallsopfer, wie sich herausgestellt hatte – nicht den Spieß umgedreht und sich nach Leibeskräften gewehrt hätte. Im Bericht hatte es geheißen, dass sie ihm mit einem Biss die Halsschlagader
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