Gefährliche Trauer
blieb. Seine Ausführungen waren so irrelevant, herablassend und selbstgerecht, und sie durfte sich nicht dagegen wehren! Sie hätte ihm alles mögliche über Inkompetenz, übersteigertes Selbstwertgefühl und Oberflächlichkeit an den Kopf werfen können, aber das würde ihrem Ziel nur schaden. Am Ende müßte John Airdrie das Ganze ausbaden.
Mit beinah unmenschlicher Anstrengung drängte sie die bohrende Verachtung zurück.
»Wann werden Sie das Kind operieren?« fragte sie, während sie ihn entschlossen anstarrte.
Er wurde ein wenig rot. Etwas in ihrem Blick schien ihn aus der Fassung zu bringen.
»Ich hatte bereits beschlossen, es heute nachmittag in Angriff zu nehmen, Miss Latterly. Ihr Kommentar war vollkommen überflüssig«, log er - was sie durchaus wußte, sich jedoch nicht anmerken ließ.
»Ich bin sicher, Sie haben die Situation vollkommen richtig eingeschätzt«, log sie zurück.
»Worauf warten Sie noch?« fuhr er sie an und nahm die Hände aus den Taschen. »Legen Sie das Kind hin, und machen Sie sich endlich an die Arbeit! Oder wissen Sie vielleicht nicht, wie Sie meine Bitte ausführen sollen? So weit wird Ihre Kompetenz doch wohl reichen, oder?« Er schwelgte erneut in Sarkasmus; schließlich galt es, den alten Status zurückzugewinnen. »Die Binden sind in dem Schrank am Ende der Station. Den Schlüssel haben zweifellos Sie.«
Hester brachte vor Wut keinen Pieps heraus. Sie legte das Kind sanft aufs Kissen zurück und stand auf.
»Da, an Ihrer Taille, ist er das nicht?« bohrte Pomeroy weiter. Sie setzte sich so vehement in Bewegung, daß das Schlüsselbund hart gegen seine Rockschöße schlug, als sie an ihm vorbeifegte, um die Verbände zu holen.
Hester war seit Tagesanbruch im Dienst und um vier Uhr nachmittags mit ihrer seelischen Kraft völlig am Ende. Mit der körperlichen Verfassung stand es nicht viel besser: Ihr Rücken schmerzte, die Beine waren steif, die Füße taten weh, die Stiefel schienen sich in Schraubstöcke verwandelt zu haben. Und die Haarnadeln bohrten sich förmlich in ihren Kopf! Sie war absolut nicht in der Stimmung, den ständigen Kleinkrieg bezüglich der Frage, welcher Typ Frau in der Krankenpflege eingesetzt werden sollte, mit der Oberin fortzusetzen. Ihr größter Wunsch war, daß ein respektierter und bezahlter Beruf daraus wurde, damit sich intelligente und charakterstarke Frauen davon angezogen fühlen konnten. Mrs. Stansfield war mit den eher derben Geschlechtsgenossinnen aufgewachsen, die nichts anderes zu tun erwarteten, als zu scheuern, zu fegen, im Feuer herumzustochern und Kohlen zu schleppen, zu waschen, Schmutz und Exkremente zu beseitigen und Verbände zu reichen. Die älteren Semester wie sie hielten die Disziplin aufrecht - und die Leute bei der Stange. Anders als Hester hatte sie nicht das geringste Verlangen, die eigene Urteilskraft auf dem Gebiet der Medizin zu schulen und anzuwenden, nicht einmal die Verbände zu wechseln und Medikamente zu verabreichen, wenn der Chirurg nicht da war. Bei Operationen assistieren wollte sie schon gar nicht. Ihrer Ansicht nach überschätzten sich diese jungen Dinger, die von der Krim zurückgekommen waren, gewaltig und übten einen störenden und unwillkommenen Einfluß aus, womit sie auch keineswegs hinter dem Berg hielt.
An diesem Abend wünschte Hester ihr lediglich eine gute Nacht und ließ sie fassungslos mit einer unausgesprochenen Tirade zum Thema Pflicht und Moral zurück - für Mrs. Stansfield ein äußerst unbefriedigender Tagesausklang. Das würde ihr morgen nicht noch einmal passieren!
Vom Krankenhaus zu der Pension, in der Hester ein paar Zimmer gemietet hatte, war es nicht weit. Bis vor kurzem hatte sie noch bei ihrem Bruder Charles und seiner Frau Imogen gewohnt, doch aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation nach dem Tod ihrer Eltern wäre es ziemlich unfair gewesen, von Charles zu verlangen, daß er sie länger als die ersten Monate nach ihrer Rückkehr von der Krim finanziell unterstütze. Sie hatte ihre pflegerische Tätigkeit dort abgebrochen, um der Familie während der schwierigen Trauerzeit beizustehen. Nach der Aufklärung des Mordfalls Grey war sie auf Lady Callandra Daviots Angebot eingegangen, ihr bei der Beschaffung eines Krankenhauspostens zu helfen, damit sie sich aus eigener Kraft über Wasser halten und gleichzeitig ihre organisatorischen und pflegerischen Talente nutzen konnte.
Ein guter Freund, Alan Russell, hatte ihr zudem auf der Krim eine Menge über
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