Gefährliche Trauer
Glauben Sie, ich versteh nichts von meiner Arbeit?«
»Wenn sie es in der ersten Nacht zerrissen hätte, hätte sie es Ihnen dann zum Nähen gegeben?«
»Eher Mary, aber Mary hätt's zu mir gebracht. Sie hat geschickte Hände, wenn's darum geht, Maßanzüge und Abendkleider zu ändern, aber diese Lilien sind feine Arbeit. Wieso? Was spielt das noch für eine Rolle?« fragte sie wieder und verzog das Gesicht. »Es muß sowieso Mary gewesen sein, die das Ding geflickt hat, denn ich war's nicht - und als die Polizei es mir zum Identifizieren vorgelegt hat, war es völlig in Ordnung; alle Lilien waren heil.«
Hester wurde vor Aufregung ganz schlecht.
»Sind Sie sicher? Kein Zweifel? Würden Sie es beim Tod eines Menschen beschwören?«
Rose sah aus, als ob man sie geschlagen hätte. Jetzt war auch das letzte bißchen Farbe aus ihrem Antlitz verschwunden.
»Bei wessen denn, ha? Percival lebt nicht mehr! Das wissen Sie ganz genau! Was ist mit Ihnen los? Warum interessieren Sie sich für ein Stück Spitze?«
»Sind Sie sicher?« beharrte Hester. »Absolut sicher?«
»Jawohl, das bin ich.« Rose war verärgert, weil sie Hesters Hartnäckigkeit nicht verstand. Sie machte ihr angst. »Es war nicht zerrissen, als die Polizei es mir gezeigt hat mit dem ganzen Blut drauf. Der Teil mit der Spitze war sauber und völlig in Ordnung.«
»Irrtum ausgeschlossen? Das Neglige hat nicht mehr Stellen mit Spitzenbesatz?«
»Nicht so wie diese.« Rose schüttelte den Kopf. »Hören Sie, Miss Latterly, was immer Sie von mir halten mögen - Ihr hochnäsiges Getue läßt da keinen Zweifel dran aufkommen -, ich versteh meinen Job, und ich kann Saum und Kragen von einem Neglige unterscheiden! Die Spitze war nicht zerrissen, als ich es aus dem Waschraum hochgeschickt hab, und sie war auch nicht zerrissen, als ich es für die Polizei identifizieren mußte.«
»Gut«, sagte Hester ruhig. »Würden Sie das beschwören?«
»Warum?«
»Würden Sie?« Hester hätte sie am liebsten geschüttelt.
»Wem gegenüber beschwören?« zischte Rose. »Was soll das?« In ihrem Gesicht arbeitete es, als würde sie von gewaltigen Emotionen geschüttelt. »Sie meinen…« Es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen. »Sie meinen, es war nicht Percival, der sie ermordet hat?«
»Ja. Ich glaube nicht, daß er es war.«
Rose war kreidebleich. Sie hatte am ganzen Körper eine Gänsehaut. »Großer Gott! Wer dann?«
»Ich weiß es nicht - und wenn Sie auch nur einen Funken Verstand haben und Ihnen Ihr Leben lieb ist, von Ihrem Job ganz zu schweigen, sagen Sie zu niemand ein Wort.«
»Aber wie kommen Sie darauf?« So leicht ließ Rose sich nicht abspeisen.
»Sie sind besser dran, wenn Sie keine Ahnung haben, glauben Sie mir!«
»Und was haben Sie jetzt vor?«
»Es zu beweisen - nach Möglichkeit.«
In dem Moment tauchte Lizzie auf. Sie preßte verärgert die Lippen zusammen.
»Wenn Sie was gewaschen haben möchten, Miss Latterly, wenden Sie sich bitte an mich, ich werd mich drum kümmern. Aber stehen Sie hier nicht tratschend mit Rose in der Gegend rum, die hat genug zu tun.«
»Es tut mir schrecklich leid«, sagte Hester, zwang sich zu einem entschuldigenden Lächeln und floh.
Erst als sie wieder im Haupthaus war und die Treppe zu Beatrices Zimmer bereits halb erklommen hatte, kam einigermaßen Ordnung in ihre Gedanken. Wenn das Neglige unbeschädigt gewesen war, als Rose es nach oben geschickt hatte, und unbeschädigt, als es in Percivals Zimmer gefunden worden war, jedoch zerrissen, als Octavia ihrer Mutter gute Nacht gesagt hatte, mußte das Mißgeschick im Laufe des Tages passiert sein, und niemand außer Beatrice hatte davon gewußt. Octavia hatte es nicht getragen, als sie starb; zu der Zeit befand es sich in Beatrices Zimmer. Irgendwann mußte jemand das Neglige und das Tranchiermesser genommen, die Klinge in Blut getaucht, in den zarten Seidenstoff gewickelt und in Percivals Zimmer deponiert haben.
Wer?
Wann hatte Beatrice es geflickt? Sicher noch am selben Abend? Nach Octavias Tod hätte sie sich bestimmt nicht mehr die Mühe gemacht.
Wo konnte es also gesteckt haben? Vermutlich im Handarbeitskorb in Beatrices Zimmer. Oder war es in Octavias Zimmer zurückgelegt worden? Ja, bestimmt, denn ansonsten hätte, wer immer es besaß, seinen Fehler bemerkt und gewußt, daß Octavia es nicht getragen hatte, als sie zu Bett ging.
Hester stand auf dem letzten Treppenabsatz vor der Galerie. Es hatte aufgehört zu regnen, die harte, fahle
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