Gefaehrliche Verlockung (Gesamtausgabe)
zusammen.
„Leider gibt es auch bei uns viele benachteiligte Kinder.“
Ich suche seinen Blick im Rückspiegel, doch seine Augen sind fest auf die Straße geheftet. Es ist ein wenig seltsam, sich mit einem Hinterkopf zu unterhalten, aber der Beifahrersitz ist ganz offensichtlich tabu.
„Leider ja. Ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.“
„Gut, dass es die Kirchen gibt.“
Er runzelt die Stirn, soviel kann ich im dunklen Spiegel erkennen.
„Hast du Erfahrung damit?“
„Nicht mehr als jeder andere“, beeilt er sich zu sagen, aber ich glaube ihm nicht. Er macht mich neugierig, ich würde gern mehr über ihn erfahren. Wie er zu Jason gekommen ist, zum Beispiel, und warum Jason meinte, dass Orlando eine Sonderstellung unter seinen Mitarbeitern hätte. Warum er das gleiche Tattoo hat wie Jason. Für so persönliche Fragen ist unser Verhältnis allerdings zu oberflächlich.
„Da sind wir.“
Er steigt aus und öffnet mir die Tür. Ich kann Sylvias Kopfumriss am Fenster erkennen und muss lachen. Entweder hat sich ihr Date schon verabschiedet, oder sie hat den armen Kerl ins Koma gevögelt und wartet jetzt neugierig auf mich.
„Danke, Orlando. Bis bald.“
Hoffe ich.
Er schenkt mir ein Lächeln, das ich als freundlich bezeichnen möchte, und zieht einen imaginären Hut vor mir, sodass ich lachen muss.
„Eine angenehme Nacht wünsche ich, Ms White.“
Ms White. Das klingt so ... erwachsen. Ich bin es gar nicht gewöhnt, dass man mich mit meinem Nachnamen anredet oder gar siezt, denn trotz meiner 28 Jahre wirke ich auf die meisten Menschen noch immer wie ein Teenager. Auch wenn das durchaus Vorteile hat – beim Kauf von Alkohol oder Zigaretten (nicht, dass ich rauchen würde) hat mir das schon einige peinliche Situationen beschert. Es ist mühsam, wenn man sich ständig ausweisen muss, obwohl der 21. Geburtstag schon so viele Jahre zurückliegt.
Trotz der abrupten Unterbrechung dieser Nacht und meiner Müdigkeit, die wie ein Schleier auf mir drückt, habe ich gute Laune, als ich das Haus betrete. Es ist still und dunkel, die meisten unserer seriösen Nachbarn sind schon im Bett, obwohl Wochenende ist. Wir werden alle älter. Und erwachsener.
„Ha, ich hab geahnt, dass du doch nach Hause kommst!“
Sylvia sitzt in der Küche und hebt triumphierend ein Glas mit Rotwein. Wieder ein Geschenk? Mist, ich wollte Jason schon die ganze Zeit nach dem Weißwein fragen, den jemand Unbekanntes vor unserer Tür abgestellt hat, das habe ich vor Aufregung glatt vergessen.
„Ich wollte es so. Wo ist Mr Perfect?“
Sie verdreht seufzend die Augen.
„Den habe ich auch nach Hause geschickt, nachdem er mir auf der Heimfahrt die Ohren von Robert Pattinson vollgesülzt hat. Der ist ziemlich sicher schwul und hat es noch nicht gemerkt.“
Wir lachen gemeinsam, Sylvia schenkt mir Rotwein ein und schiebt das Glas über den Tisch zu mir.
„Und du? Sieht aus, als hättest du einen netten Abend gehabt?“
„Teilweise.“
Mein Hintern brennt noch immer, und wenn ich die Sitzhaltung ändere, durchzuckt mich ein schmerzhafter Impuls, der mich sofort an Jason erinnert. Ich frage mich, ob man seine Fingerabdrücke wirklich sehen kann?
Ich betrachte sinnierend die dunkelrote Flüssigkeit, die sich als holziger Chianti entpuppt und somit offenbar aus Sylvias Vorrat stammt.
Auf dem Küchentisch liegt ein kleiner Poststapel. Desinteressiert blättere ich die Umschläge durch. Krankenversicherung – bestimmt wieder eine Beitragserhöhung, ich hasse es –, Werbung, Werbung, ein Brief ohne Absender ... Moment mal, ein Brief ohne Absender?
„War der im Briefkasten?“, frage ich stirnrunzelnd, während ich den Umschlag aufreiße.
„Ja, mit den anderen Briefen, ganz normal. Komische Schrift, oder?“
Ich nicke kurz und lese den zusammengefalteten Zettel, der nur wenige krakelige Zeilen enthält. Dann erstarre ich und schiebe den Brief wortlos zu Sylvia rüber.
„Was ist denn ... waaaas?“
Ihr Mund klappt auf, und sie reißt die Augen auf, während sie liest.
„Was ist das denn für eine Scheiße? Hast du eine Idee, woher der kommt?“
„Keinen Schimmer! Die Schrift ist seltsam, das sieht fast aus, als hätte ein Kind das geschrieben.“
„Großer Gott, Emma, das musst du Jason zeigen! Vielleicht hat er eine Idee, wer das gewesen sein kann?“
Sylvia schüttelt sich und wirft den Brief angeekelt auf den Tisch, wo er zwischen uns liegen bleibt. Beinahe anklagend starren mich die gekritzelten Buchstaben
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