Gefaehrliche Versuchung
seine Bürsten auf der Kommode. Keine Hilfe. Nur der Beweis, dass Harry sich damit wohlgefühlt hatte, den Platz des Hausherrn einzunehmen und sie ein Stück weit aus ihrem eigenen Leben zu drängen.
Im Augenblick konnte sie nichts daran ändern. Nicht wenn sie ihn nicht wecken wollte. Mit der freien Hand schob sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn, zog dann einen Stuhl heran und nahm Platz. Vielleicht würde er sie loslassen, wenn sie sich ein paar Minuten zu ihm setzte.
Leider wusste sie nicht, was sie tun sollte, nachdem sie sich gesetzt hatte. Ihr wurde bewusst, dass es seit ihrer Entführung in der Kutsche das erste Mal war, dass sie mehr als ein paar Momente in Ruhe an einem sicheren Ort sitzen konnte. Wie viele Tage waren seitdem vergangen? Sie seufzte und rieb sich über die brennenden Augen. Es kam ihr alles so unwirklich vor. Wie ein Melodram, das fürs Rampenlicht geschrieben worden war.
Unglücklicherweise war alles nur allzu real. Und es war erst der Anfang.
Sie würde eine Möglichkeit brauchen, um ruhig und vernünftig zu entscheiden, was sie als Nächstes tun sollte. Doch sie musste weg von Harry, um das tun zu können. »Ruhig« und »vernünftig« tauchten in ihrem gemeinsamen Wortschatz als Begriffe nicht auf. Sie betrachtete den feinen Ring an ihrem Finger und rechnete fast damit, dass er glühen würde. Als sie nun so still neben Harry saß, konnte sie wieder diese seltsame Spannung und dieses elektrische Knistern spüren, die zwischen ihnen herrschten und die sich so leicht entzündeten. Dieselbe kribbelnde Hitze, die sie früher verführt hatte und die sie nun verunsicherte.
Sie war überrascht, dass diese Empfindung im Laufe der Jahre nicht verschwunden war, sondern immer noch so stark und lebendig war wie in ihrer Jugend. Während sie dasaß und Harrys Hand hielt, fühlte sie diese Kraft durch ihren Körper strömen wie ein schönes, warmes Licht, das sich auf ihrer Haut ausbreitete und ihren Bauch wärmte. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Körper sich erinnerte. Dass ihr Körper sich verzehrte – nach Harry. Vor allem nach Harry.
Es war nicht so, dass er nicht anziehend wäre. Er war ein beeindruckender Mann. Die subtile Schönheit hatte sich vor langer Zeit zu Stärke verändert, zu scharf geschnittenen Zügen. Kinn, Wangen und Stirn waren inzwischen wettergegerbt, und kleine Fältchen hatten sich um seine Augen gebildet. Sein blondes Haar war ein bisschen zerzaust, seine Ohren standen ein wenig ab. Aber sein Hals war wie von einem Künstler geschaffen, in Mondschein getaucht. Seine Arme waren dazu gemacht, um zu beschützen und zu umsorgen. Er war schlank und wohlgeformt. Schweißperlen glitzerten auf seiner Brust und seinem Bauch. Sie konnte das saubere Bettzeug und die frische Luft an ihm riechen, außerdem einen leichten Duft nach Pferden und Tabakaroma. Es war der Geruch eines Mannes. Harrys Geruch.
Immerhin war sie sicher vor seinen Blicken. Einst hatte sie seine Augen so geliebt. Irgendwann einmal hatte sie das Spiegelbild des Himmels, unmögliche, endlose Ewigkeiten darin gesehen. Sie hatte dafür gelebt, zu sehen, wie seine Augen vor Verlangen dunkel geworden waren oder wie sie vor verschmitzter Belustigung geleuchtet hatten, als sie sich mit Zitaten längst verstorbener Autoren gegenseitig einen Wettstreit geliefert hatten. Und sie hatte die messerscharfe Klugheit geliebt, die die Augen hatte strahlen lassen, als er ihr die Bedeutung der Begriffe Gewicht, Belastung und Strecke erläutert hatte.
Hatte Harry recht? Gab es einen Weg, um ein gemeinsames Leben zustande zu bringen? Auch nach allem, was er getan hatte? Was sie getan hatte? Hatte sie so viel Mut? Ihr Herz stolperte – doch war es aus Angst oder vor gespannter Vorfreude? Harry sagte, er könne ihr helfen, über all das hinwegzukommen, was geschehen war. Er könne ihr die einzigartige, atemlose Freiheit des Vergnügens und der Lust wiedergeben und sie vom Schmerz befreien. Das hatte er ihr gesagt. Er hatte allerdings auch schon mal gesagt, dass er sie retten würde.
Sie schloss die Augen, und die Welt reduzierte sich auf Harry, auf das merkwürdige ruhelose Knistern zwischen ihrer und seiner Hand. Sie schmeckte es wie Champagner auf ihrer Zunge und hörte das schneller werdende Pochen ihres Herzens.
Harry schlief. Er würde es niemals erfahren. Die Wärme war einfach zu verführerisch. Ihr war schon so lange so kalt. Wenn sie nur eine Weile hierbleiben könnte, leise, und ein bisschen vom Leben trinken
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