Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder
überkam langsam das dunkle Gefühl, dass sie auch der letzte sein würde.
Sie drehte den kleinen Kranz in ihren Händen. »Der ist wunderschön«, sagte sie. Er bestand aus Kiefernzweigen, durch die ein rotes Seidenband geflochten war. Sie hielt ihn sich an die Nase und atmete den wunderbaren Kiefernduft ein. »Vielen Dank.«
»Dank nicht mir.« Jenna schälte sich aus diversen Kleidungsschichten, die sie einfach auf den Sessel fallen ließ. Sie hasste die Kälte und sagte immer, wenn ihr Schiff einlaufen oder sie einen Millionär zum Heiraten finden würde, würde sie auf die Bahamas ziehen. »Dank Cindy. Sie hat ihn für dich gemacht. Ich bin ja so stolz auf sie. Sie hat die Anleitung in irgendeiner Zeitschrift entdeckt und den ganzen Abend daran gearbeitet.« Sie musterte den Kranz stolz. »Gar nicht mal so übel für eine Neunjährige, was?«
»Nein, allerdings nicht.« Caroline stellte ihn behutsam auf einen kleinen Tisch neben einen Stapel Bücher zum Thema Weihnachten. »Sie macht sich wirklich toll. Ich bin sehr froh, das zu hören.«
»Dank dir«, erwiderte Jenna. »Ich bin dir so dankbar, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr.«
Caroline winkte lächelnd ab.
Jenna war während der ganzen Highschool-Zeit ihre beste Freundin gewesen. Sie hatte ihren Highschool-Freund geheiratet, statt aufs College zu gehen, und rasch hintereinander zwei Kinder bekommen: Mark, jetzt zwölf, und Cindy, neun Jahre alt. Jenna hatte ihre Ehe und die Mutterschaft genossen und sich in ihrer kleinen häuslichen Welt vollkommen von der Außenwelt abgeschottet. Als Carolines Eltern starben und Toby schwer verletzt im Krankenhaus lag, hatte sich Jenna als völlig unfähig erwiesen, mit einer Tragödie wie dieser umzugehen. Sie war weder zur Beerdigung gekommen noch hatte sie Carolines Anrufe erwidert.
Aber diese Reaktion war so weit verbreitet, dass Caroline es ihr nicht mal verübelte. Viele Menschen hatten das Gefühl, dass Unglück irgendwie ansteckend sein könnte, und in der Zeit nach Tobys Beerdigung war ihr aufgefallen, dass manche sogar auf die andere Straßenseite wechselten, nur um ihr nicht ihr Beileid aussprechen zu müssen. Niemand mochte schlechte Nachrichten.
Im letzten Jahr jedoch hatte Jennas Mann sie wegen seiner Sekretärin verlassen, und in derselben Woche hatte dann ihr Vater ihre Mutter verlassen, bei der gerade Alzheimer diagnostiziert worden war.
Jenna stand ganz allein da, mit zwei kleinen Kindern, einer kranken Mutter, ohne Geld und ohne Job. Sie war vollkommen am Ende und verließ sich in allem auf Caroline. Eine Zeit lang hatten Mark und Cindy bei Caroline gewohnt, während Jenna sich einen Job als Bankangestellte gesucht und sich darum gekümmert hatte, dass ihre Mutter Pflege bekam. Mark und Cindy waren zwei verstörte, verängstigte Kinder gewesen, als sie zu ihr gekommen waren. Ihre ganze Welt war aus den Fugen geraten. Wenn es etwas gab, womit Caroline und Toby vertraut waren, dann mit dem Gefühl, dass die Welt um einen herum zusammenbrach.
Jenna stellte eine große Tüte auf Carolines Tisch und begann damit, verschiedene Kartons herauszuholen. Diese Woche war sie an der Reihe, das Essen mitzubringen.
»Das riecht fantastisch«, sagte Caroline erwartungsvoll. Sie öffnete einen der Kartons und holte mit ihren Stäbchen ein Dim Sum heraus. Sie verdrehte die Augen. »Und es schmeckt sogar noch besser.«
»Hier.« Jenna hielt ihr ihren Karton hin. »Versuch mal das Rindfleisch in schwarzer Bohnensoße, das ist toll! Und es wird sich garantiert nicht auf meinen Hüften niederschlagen, weil ich nämlich wenigstens zehntausend Kalorien verbraucht habe, als ich durch die Kälte hierhermarschiert bin.«
Sie langten kräftig zu. Das köstliche warme Essen belebte gleich wieder ihre Lebensgeister. »Oh Essen, glorreiches Essen«, sagte Jenna. Sie lehnte sich zurück und kratzte mit ihren Stäbchen geräuschvoll das letzte Stückchen Hühnerfleisch vom Boden des Kartons. »Besser als Sex.«
Caroline lächelte geheimnisvoll. Von wegen. So gut das Essen auch war, sie hatte gerade entdeckt, dass Sex noch um eine ganze Größenordnung besser sein konnte.
»Wo wir gerade davon reden.« Jenna zeigte mit den Stäbchen auf sie. »Ich glaube, du hast mir etwas zu erzählen. Ich kann nicht glauben, dass dieser anbetungswürdige Mann bei dir wohnt und du mir kein Wort davon erzählt hast.«
Carolines Augen wurden groß und rund.
Du meine Güte, was sollte das denn? Hatte Jenna so eine Art Radar? Oder
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