Gefährliches Geheimnis
klingen zu lassen.
»Überallhin«, antwortete er, den Blick immer noch aus dem Fenster gerichtet, weg von ihr. »Erst fuhr sie durch eine Reihe von Seitenstraßen irgendwo in die Nähe von Covent Garden. Zuerst dachte ich, sie würde einkaufen gehen, obwohl ich keine Ahnung hatte, was sie dort zu finden hoffte. Aber sie betrat ein kleines Gebäude und kam ohne irgendetwas wieder heraus.« Er wollte noch etwas hinzufügen, dann schien er es sich anders zu überlegen, offensichtlich wollte er es nicht laut aussprechen.
»War das alles?«, fragte Hester.
»Nein.« Er wandte ihr immer noch den Rücken zu. Sie sah die harte Linie seiner starren Muskeln, die sein Jackett spannten. »Nein, sie suchte noch zwei weitere ähnliche Orte auf und kam innerhalb von zwanzig Minuten wieder raus. Schließlich fuhr sie in die Swinton Street, das ist eine Seitenstraße der Gray’s Inn Road, und entlohnte den Droschkenkutscher.« Jetzt drehte er sich zu ihr um, Herausforderung blitzte in seinen Augen auf. »Vor einem Metzgerladen! Sie sah … aufgeregt aus! Ihre Wangen waren gerötet, und sie lief übers Pflaster und packte ihre Tasche so fest, als wollte sie etwas schrecklich Wichtiges einkaufen. Hester, was kann das bedeuten? Es ergibt überhaupt keinen Sinn!«
»Ich weiß es nicht«, meinte sie. Sie hätte gerne geglaubt, Imogen hätte einfach eine Freundin besucht und vielleicht nach einem außergewöhnlichen Geschenk gesucht, aber Charles hatte gesagt, sie hätte außer ihrer Tasche offensichtlich nichts anderes bei sich gehabt. Und warum war sie am Abend ausgegangen, gerade als Charles, wenn auch ein bisschen früh, nach Hause gekommen war, aber
ohne es ihm zu sagen?
»Ich habe … habe Angst um sie«, sagte er schließlich.
»Nicht um meinetwillen, sondern um des Skandals willen, den sie heraufbeschwört, wenn sie …« Er bekam das Wort nicht über die Lippen.
Hester ließ ihn nicht zappeln. »Ich besuche sie noch einmal«, sagte sie freundlich. »Wir waren mal befreundet. Ich werde sehen, ob ich ihr Vertrauen so weit zurückgewinnen kann, dass ich mehr erfahre.«
»Wirst du … wirst du mich …« Er wollte nicht sagen
»benachrichtigen«. Manchmal war er sich bewusst, dass er wichtigtuerisch war. Wenn er in bester Verfassung war, konnte er über sich lachen. Diesmal fürchtete er, sich lächerlich zu machen oder Hester vor den Kopf zu stoßen.
»Natürlich werde ich das!«, sagte sie entschlossen. »Ich möchte dir fast sagen, sie hat eine unmögliche Freundin kennen gelernt, von der sie denkt, dass du sie vielleicht nicht gutheißt, und deshalb hat sie es dir nicht erzählt.«
»Bin ich so …?«
Sie lächelte. »Also, ich habe die Freundin nicht gesehen! Vielleicht ist sie sehr exzentrisch oder hat schrecklich schlechte Manieren!«
Er blinzelte plötzlich. »Ja, vielleicht.«
Der Sekretär erschien in der Tür und sagte ent- schuldigend, dass Mr. Latterlys nächster Kunde wartete. Hester entschuldigte sich, trat hinaus auf die belebte Straße mit ihrer Geschäftigkeit, den Botenjungen, den Bankiers in ihren dunklen Anzügen und den Kutschen mit den in der Sonne schimmernden Geschirren, und ein Gefühl von Bedrücktheit ergriff sie.
2
Hester war am nächsten Tag gerade dabei, das Geschirr vom Mittagessen abzuwaschen und hatte eben die letzten Teller in den Ausguss gestellt, als es an der Tür klingelte. Sie ließ Monk die Tür öffnen, in der Hoffnung, es sei ein neuer Mandant. Zudem war sie nass bis zu den Ellenbogen und wollte nicht noch einmal anfangen müssen, wo sie doch den Abwasch alles andere als gerne machte.
Sie hörte erst Monks Schritte, dann die Haustür aufgehen, danach war es mehrere Augenblicke still. Sie hatte gerade den ersten Teller abgetrocknet und wollte nach dem zweiten greifen, als ihr Blick auf Monk fiel, der in der Küchentür stand. Sie drehte sich zu ihm um.
Seine Miene war so ernst, dass sie erschrak. Die ebenmäßigen, harten Züge waren freudlos. Das Licht fiel auf seine Wangenknochen und Augenbrauen, seine Augen lagen im Schatten.
»Was ist los?«, fragte sie und schluckte die Angst hinunter. Es war offensichtlich mehr als ein neuer Fall, und sei er noch so tragisch. Es war etwas, was sie im Herzen berührte. »William?«
Er trat einen Schritt in die Küche. »Kristian Becks Frau ist umgebracht worden«, sagte er so leise, dass die Person, die im Wohnzimmer wartete, es nicht hören konnte.
Hester war wie gelähmt. Das konnte unmöglich wahr sein. Sie hatte das Bild einer
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