Gefaehrliches Schweigen
erhalten.
Sie würden ihn schlagen, ihn mit Füßen treten, bis er starb.
Sie trieben ihn vor sich her bis zum Eingang der Kiesgrube.
Dort blieben sie stehen.
Und warteten.
Auf was?
Noch mehr kamen hinzu, auch die drei aus der Stadt waren inzwischen angelangt.
A ber nichts geschah.
Sie standen einfach dort, während die Dunkelheit sich herabsenkte. Eine Ewigkeit lang.
Marko weinte vor Entsetzen, stammelte schniefend Entschuldigungen hervor und gelobte Buße und Besserung.
Er unterbrach sich jäh, als eine Stimme seine von Selbstmitleid benebelten Sinne durchdrang. Jemand rief seinen Namen.
Anna!
Da erst begann das wirkliche Grauen.
Er sah sie kommen, konnte ihren Ruf jedoch nicht erwidern, um sie zu warnen. Eine harte Hand presste sich auf seinen Mund.
Sie bogen ihm die Arme hinter den Rücken hoch und hielten ihn mit eisernem Griff fest, zwangen ihn, zuzuschauen.
Seine Tränen ließen Annas dünne Gestalt verschwommen erscheinen. Sie rief immer noch seinen Namen. Aber es gab nichts, was er tun konnte.
Außer weinen.
Und hassen.
Und hoffen, dass sie Anna nicht zu sehr wehtun würden.
Anna schob die Hände tief in die Taschen und kämpfte sich gegen den heftigen Wind voran, während sie über ihren Bruder fluchte.
Mitten in ihrer Lieblingssendung im Fernsehen hatte sie eine SMS von Marko bekommen.
„Komm an den Eingang der Kiesgrube. Ich muss dir was zeigen.“
Sie hatte versucht, ihn anzurufen, wollte protestieren. Es war dunkel und kalt, sie hatte keine Lust. Aber er antwortete nicht, egal wie oft sie anrief. Als Einziges erhielt sie eine neue Nachricht.
„Komm!“
Obwohl sie verärgert war, war sie auch ein wenig neugierig. Marko war in letzter Zeit so seltsam gewesen, abwesend und müde. Vielleicht würde sein Verhalten jetzt eine Erklärung finden. Wenn ja, dann wäre sie stolz darauf, diejenige zu sein, der er sich anvertraute.
Sie vergötterte ihren großen Bruder. Er war nur ein Jahr älter als sie, u nd während ihre Freunde laufend Zoff mit ihren Geschwistern hatten, waren sie und Marko immer ein Herz und eine Seele. Und sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Bis jetzt.
Seit kurzer Zeit war Marko wie ausgewechselt. Er wollte nicht mehr so wie früher mit ihr reden und war sauer geworden, als sie ihn fragte, was denn eigentlich los sei. Er war ständig unterwegs und kam abends spät nach Hause, obwohl er bis dahin eigentlich immer nur vor seinem Computer gehockt hatte.
Ab und zu fuhren vereinzelte Autos an ihr vorbei, ansonsten war sie allein auf dem Fußweg, aber sie trabte zielstrebig weiter, ohne sich umzuschauen. Ihre Mutter hatte sie gewarnt. Nie mit Fremden reden. Nie zu einem Auto hingehen, das anhielt.
Zum Glück war es nicht weit. Innerhalb von zehn Minuten war sie am Ziel. Vielleicht würde sie es noch schaffen, das Ende der Sendung zu sehen, wenn das hier schnell erledigt wäre. Linker Hand konnte sie schon den Eingang zur Kiesgrube erkennen. Der Weg war mit einer Schranke versperrt. Neben dem Weg stand ein Wachhäuschen mit vollgesprayten Wänden.
Sie ging weiter, obwohl sie diesen Treffpunkt ziemlich eigenartig fand.
„Marko!“
Der Ruf wurde von dem starken Wind verschluckt.
Sie umrundete das Häuschen. Vor ihr öffnete sich eine dunkle Sandlandschaft, bedeckt von Schnee. Eine Zeit lang war es beliebt gewesen, an den steilen Hängen Schlitten zu fahren, bis das ein brutales Ende genommen hatte. Ein Junge war direkt auf einen großen Steinbrocken gefahren, der unterm Schnee verborgen lag. Er hatte sich den Kopf aufgeschlagen und hatte mehrere Monate im Krankenhaus verbringen müssen.
Plötzlich hörte sie knarrende Schritte. Jemand war hinter dem Häuschen.
„Marko?“
Sie drehte sich um und spähte umher. Es war wirklich sehr dunkel. Sie sah überhaupt nichts.
„Marko!“, rief sie noch einmal.
D iesmal mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Hör mit dem Quatsch auf. Ich krieg Angst.“
Sie näherte sich dem Häuschen und hörte wieder Schritte. Bestimmt würde Marko jeden Moment hervorhüpfen und sie erschrecken. Sie wappnete sich. Ich werde nicht schreien.
Plötzlich kamen die Schritte aus allen Richtungen. Im Nu war sie umringt. Harte Hände griffen nach ihr und hielten sie fest.
Sie schrie auf, doch da presste sich eine lederbehandschuhte Hand auf ihren Mund und Anna spürte, wie sie auf die steile Kante zugeschleppt wurde.
DIENSTAG
Als ich wieder zur Arbeit kam, fragte ich Elin, ob sie wüsste, dass man Kleider stehlen kann, obwohl
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